Mit ihrem Erstling »Schweben« liefert die ehemalige The-Gap-Chefredakteurin Amira Ben Saoud eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Rollen und Identität in einer statischen Gesellschaft. Angesiedelt in einer dystopischen Zukunft, ist das Thema dennoch hochaktuell.

Im gesellschaftlichen Miteinander spielen wir alle unterschiedliche Rollen: als Tochter, als Mutter, als Arbeitskollegin. Rollen, die wiederum an Erwartungen geknüpft sind. Manchmal nehmen wir sie nicht einmal wahr, manchmal fallen sie uns regelrecht auf die Zehen. Oder wir werden uns ihrer erst bewusst, wenn uns jemand mit der Nase darauf stößt.
Zwei prägende Rollen im Leben von Amira Ben Saoud sind jene der Journalistin und jene der Autorin. Schon bevor sie meine Fragen kennt, trifft sie eine klare Unterscheidung: »Ich bin leider total mies bei spontanen Antworten – deswegen war ich auch so lange Journalistin, weil ich da nur Fragen stellen musste«, erklärt sie lachend. Dass sie durch diesen Rollenwechsel nun im direkten Blickpunkt steht und auch Verantwortung trägt, sei ihr bewusst.
Im Schwebezustand
Der Übergang von einer Rolle zur anderen fällt ihr jedoch nicht ganz so leicht, wie man vielleicht annehmen könnte – schließlich hätte ja beides irgendwie mit Schreiben zu tun, oder? Doch Amira gesteht, dass es ihr manchmal noch schwerfalle, sich zu ihrem neuen Beruf zu bekennen: »Da sitze ich dann vier Stunden und überlege, ob ich lieber ›friemeln‹ oder ›nesteln‹ schreibe. Dass das auch eine Arbeit ist, geht noch nicht ganz in meinen Kopf rein.« Sie sei einfach mit einem anderen Bild von Arbeit sozialisiert worden, stellt sie abgeklärt fest. Damit gibt sie einen Einblick in eine Person, die nicht nur sich selbst, sondern auch die sozialen Strukturen um sich herum immer wieder hinterfragt. Weshalb es auch wenig überrascht, dass in ihrem Erstling Themen wie Rolle, Identität und Selbstwahrnehmung zentral sind – sowohl explizit als auch zwischen den Zeilen.
Amira bezeichnet sich selbst gerne als »Autorin, die eigentlich nie geschrieben hat«. Doch wenn das Schmunzeln nicht deutlich mitgeklungen wäre, hätte sie sich kurz darauf selbst überführt. Viel eher mutet ihr Schreiben wie ein geheimnisvolles Projekt an, das schon früh seinen Anfang nahm. Denn nicht nur, dass sie schon als Kind gerne Welten erfand – sie habe auch immer etwas mit dem Schreiben machen wollen.
Nach dem Studium der klassischen Philologie führte sie ihr Interesse an Popkultur zu The Gap, wo sie zunächst als Praktikantin begann und später zur Chefredakteurin aufstieg. »Es ist quasi einfach so passiert, ein bisschen.« Das Schulterzucken ist fast hörbar und lässt wie Zufall wirken, was dann doch viel mit Talent zu tun gehabt haben muss.

Nicht mehr Erklärbär
Sie sei immer gerne Journalistin gewesen, betont Amira, was unter anderem ihre fünf Jahre als Kulturredakteurin bei der Tageszeitung Der Standard belegen. Die Anforderungen dieses Berufs – geprägt von überbordendem Effizienzzwang, sich plötzlich ergebenden Fristen und ständigem Zeitdruck – hätten aber doch nicht ganz zu ihrem Naturell gepasst. »Schweben« habe dann ab 2019 als starker Kontrast zum beruflichen Alltag gedient und sei als »super ineffizientes« Projekt entstanden, bei dem sie sich »über alles Tausende Gedanken gemacht« habe. Die Rolle der Autorin einzunehmen, bedeute für Amira ein bewusstes Heraustreten aus dem journalistischen »Erklärbär-Modus«, wie sie es selbst nennt. Sie erzählt dort atmosphärisch und dicht, manchmal plakativ, manchmal zwischen den Zeilen, oft auch gewollt offenbleibend.
»Schweben« ist eine Dystopie, die in einer abgeschotteten Siedlung spielt. Im Mittelpunkt steht eine Frau, die ihren eigenen Namen nicht kennt und sich darauf spezialisiert hat, gegen Geld verlorene Bezugspersonen zu ersetzen – eine surreal anmutende Aufgabe, eingebettet in eine Welt, die durchaus auch die unsere sein könnte. Denn nicht nur die dort bereits unkontrolliert eskalierte Klimakrise, sondern auch das Festhalten der Menschen an Gewohntem scheint eine Parallele zur heutigen Zeit zu sein.
Amira sieht unsere Gesellschaft als zu statisch. Mit ernstem Blick äußert sie Besorgnis und Unverständnis gegenüber der aktuellen Lage, in der die Klimakatastrophe nicht mehr aufzuhalten sei. So viele Menschen würden tagtäglich so vieles hinnehmen oder sich gar nicht richtig bewusst sein, »wo wir da halt einfach hineinlaufen, sehenden Auges«.
Patriarchale Muster
Es überrascht daher wenig, dass in ihrem Roman ausgerechnet eine Frau für die Aufgabe, verlorene zwischenmenschliche Beziehungen zu ersetzen, »gekauft« werden kann. Und obwohl – oder gerade weil – die Hauptfigur einen eigenen Geschäftszweig entwickelt, indem sie Menschen nachahmt, werde sie zum Spiegelbild jener Frauen, die glauben, Handlungsmacht zu besitzen, dabei aber unbewusst patriarchalen Mustern folgen, wie die Autorin meint.
Während des Schreibens sei ihr zudem bewusst geworden, wie Projektionen auch in ihr selbst wirken. Insbesondere, als in diesem Film, der sich ständig in ihrem Kopf abspielte, alle Figuren ihrer futuristischen Gesellschaft unerwartet weiß gewesen seien. »Dabei müssten sie das gar nicht sein«, betont Amira Ben Saoud nachdrücklich.
Als es dann darum geht, ob sie genau das – nämlich Impulse zur Reflexion – vermitteln möchte, kann sie endlich wieder schmunzeln. Obwohl sie das Wort »vermitteln« nicht besonders mag, sagt Amira, dass sie es »schon schön fände, wenn Menschen, die das lesen, sich vielleicht fragen: ›Woher kommen eigentlich diese Geschichten, die man sich über sich selbst erzählt?‹« Und so wird ihr Debütroman zu einer Einladung, über die eigenen Rollen und Strukturen im Alltag nachzudenken. Vielleicht auch über solche, die vermeintlich selbst gewählt wurden – oder vielleicht doch nicht ganz?

Der Roman »Schweben« von Amira Ben Saoud erscheint am 18. März 2025 im Zsolnay Verlag und wird noch am selben Tag im Wien Museum präsentiert.