Christoph Prenner bewegen bewegte Bilder – in diesem Kompendium zum gleichnamigen Podcast schreibt er drüber. Diesmal schildert er, warum die Serie »Atlanta« von und mit Donald Glover ganz anders ist als alles andere im TV.
»Was wird bleiben?« – Da war sie wieder mal, beiläufig eingestreut, die Frage, die gemeinhin gern den Weg dorthin weist, wo das Eingemachte zu finden ist. In diesem Fall spielte sie indes nicht zwingend ins Existenzphilosophische hinein, ernst zu nehmen war sie nichtsdestoweniger. Zielte sie, gestellt von einem befreundeten Film-Podcaster, doch direkt ab auf den Kern des beruflichen Wirkens. Der Kollege hatte, das gegenwärtige Serienschaffen nur noch aus sicherer Distanz betrachtend, mit der bedeutungsschwer wirkenden Frage um eine Einschätzung gebeten: Welches kontemporäre Serienschaffen könnte denn gegebenenfalls auch in zehn bis 15 Jahren noch Meisterwerkmaßstäben gerecht werden, also den sogenannten Test der Zeit bestehen? Um auf diese Weise jenen Status zu erreichen, den man heute Produktionen aus den frühen Tagen des aktuellen Golden Age of Television zugesteht – »The Wire«, »Mad Men«, »Breaking Bad« et al.
Es gibt wahrlich einfachere Nachdenkaufgaben, zumal in Zeiten, in denen dir ob des kaum noch fassbaren allwöchentlichen Nachschubs der Streaming-Anbieter konstant die Übersicht darüber verlorenzugehen droht, was denn überhaupt relevant sein könnte – von der Erkenntnis, was davon auch noch über den ersten Hype hinausgehend halten wird, ganz zu schweigen. Und doch war eine erste Antwort auf die Frage, auch zur eigenen Verwunderung, überraschend schnell und leicht gefunden. Sie lautete: »Atlanta«.
Auf die nun geklärte Frage folgt freilich die logische weiterführende: Was ist »Atlanta« eigentlich? Am einfachsten ist es wohl, wenn man sie von ihrer Kehrseite her aufzäumt: Was ist es nicht (nur)? Eine jener formell wie inhaltlich bahnbrechenden Halbstunden-Dramedys nämlich, für die FX, die US-Senderheimat der Show, seit Jahren global geschätzt wird (siehe »Better Things«, »Louie«, »Baskets«). Wiewohl das Brainchild des multitalentierten Schauspielers, Comedians, Musikers Donald »Childish Gambino« Glover zum Start 2016 noch als eine ebenjenem Showschlag zugehörige, smart-edgy »Schwarzes Strugglen im Showbiz«-Sitcom gelauncht wurde, ließ sie sich von diesen Vorgaben nie so recht limitieren. Zum Glück.
Zusammen mit Autorenbruder Stephen und Stammregisseur Hiro Murai hatte Glover die Szenarien, in denen sich die vier Hauptfiguren – Rapstar in spe Paper Boi (Brian Tyree Henry), sein Cousin / Manager Earn (Glover himself), dessen On-off-Freundin Van (Zazie Beetz) sowie der wundervolle Schrulli Darius (LaKeith Stanfield) – wiederfinden, gleichsam von Stunde null weg so gründlich auf links gedreht, dass das Setting der Serie (die Musikindustrie) dabei genauso schonungslos dekonstruiert wurde wie das Format Serie selbst. »Atlanta« fühlte sich so sofort komplett ganz anders an als alles andere im TV. Nicht nur in einer eigenen Liga zu finden, sondern irgendwie gleich ein eigenes Genre begründend. Aber welches? Die nächste schwierige Frage.
Finger auf Wunden
Man darf sich »Atlanta« als Show vorstellen, die per se zwar der Anthologie-Idee von Produktionen wie »Black Mirror« et al anhängt, in denen in jeder Episode Ideen und Themen ohne klare Anknüpfung an Vergangenes oder Kommendes in den Ring geworfen werden, – ohne dabei jedoch im engeren Sinne eine Anthologie-Serie sein zu wollen. Schließlich sind es hier ja nicht immer wieder neue und nie mehr wiederkehrende, sondern zumeist die gleichen Charaktere, die von Glover und Co in eine Welt und ihre Ereignisse geschickt werden, die unwirklich zu nennen man nicht umhinkommt. Trotz der bisweilen beachtlich surrealen Situationen werden solcherart aber Finger auf nur allzu reale Wunden gelegt, auf Wunden, die selbst in progressiven Kreisen viel zu gern ausgeblendet werden.
»Atlanta« möchte die Black Experience nicht als zynische Schmerzensschau (siehe »Them«) abbilden; utopische Wunschträumereien (siehe »Bel-Air«) sind der Show aber ebenso fremd. Vielmehr sollen all die Abgründe und Absurditäten, denen Schwarze tagtäglich ausgesetzt sind, mit den Mitteln der Überhöhung und Übertreibung zur Kenntlichkeit entstellt werden – in der Form einer fortwährenden, unentrinnbaren Horrorkomödie mit mitunter hochgradig verstörender fantastischer Schlagseite.
Und, oh my, in der brandneuen dritten Staffel (zu sehen auf Disney+), auf die man viel zu lange vier Jahren warten musste, geht »Atlanta« in puncto abgefahrene Traumlogik jetzt so richtig all in. Alles, wirklich alles ist nunmehr Ambivalenz und allgemeine Verunsicherung in diesen frischen Folgen. Ja, man kann sich noch nicht einmal wirklich sicher sein, ob die Europatour, auf der sich Paper Boi und seine Reisegesellschaft befinden, in der präsentierten Form stattfindet – oder nur im Kopf einer der Figuren. Aus diesem ultraweirden Lynch’esken Fiebertraum heraus gelingt es Glover, die diesem zugrunde und darunterliegende Realität schonungsloser denn je zu sezieren. Rücksicht wird hierbei auf wirklich niemanden mehr genommen – schon gar nicht auf falsche Alliierte.
Besonders brillant ist in dieser Hinsicht die surreal-as-fuck Standout-Episode »White Fashion«, die sich zu des Pudels Kern der ungezählten Social-Justice-Kampagnen globaler Megabrands vorarbeitet: Dem turbokapitalistischen System werden Profite zu jedem Zeitpunkt wichtiger sein als die echten Bedürfnisse der Menschen, die es unter dem Deckmantel der Tugendhaftigkeit zu vertreten verspricht.
Die große Entzauberung nach »Atlanta«-Art, sie ist ein weiteres Mal geglückt. Erst, wenn man den eigenen Augen nicht mehr trauen darf, kann man darüber nachzudenken beginnen, wovor man selbige die längste Zeit verschlossen hat. Wenn es das ist, was bleiben wird, dann ist das schon eine ganze Menge.
Christoph Prenner plaudert mit Lillian Moschen im Podcast »Screen Lights« zweimal monatlich über das aktuelle Film- und Seriengeschehen. Unser Kolumnist ist per E-Mail unter prenner@thegap.at zu erreichen bzw. auf Twitter unter @prennero zu finden.