Die Zuckerpuppe Nora verlässt das Puppenheim, um sich selbst nicht nur zu finden, sondern auch zu verwirklichen. Wo Ibsens Geschichte aufhört, fangen Elfriede Jelinek und Regisseur Dusan David Parisek erst an.
Ibsens Figur „Nora“, aus dem gleichnamigen Stück, hat schon so einige unterschiedliche Inszenierungen durchlaufen. 2003 jagte sie zum Beispiel, in einer Produktion der Berliner Schaubühne, im Outfit von Lara Croft ihrem Ehemann Torvald eine Kugel durch den Kopf. Auch die Frau, die sie seit vergangenem Samstag im Stück Nora³ am Volkstheater verkörpert, hat in ihrer bisher erst kurzen Karriere schon ein ziemlich großes Rollenrepertoire vorzuweisen: Stefanie Reinsperger, die am besten Weg ist „die Reinsperger“ zu werden und somit auch zu einem der Fixsterne am österreichischen Schauspielhimmel.
Der Wechsel vom Burgtheater ans Volkstheater in diesem Herbst scheint nicht nur ihr gut getan zu haben, sondern verpasst dem Theater eine zusätzliche Spritze zur Förderung des Selbstheilungsprozesses, nach einigen faden Spielzeiten zuvor. Der Regisseur von Nora³, Dusan David Parisek, und die Reinsperger kennen sich schon aus Wolfram Lotz‘ „Die Lächerliche Finsternis“, die erst kürzlich in der jährlichen Kritikerumfrage von „Theater heute“ zur Inszenierung des Jahres gewählt wurde – läuft also für die beiden.
„Ich strebe meine persönliche Verwirklichung an“
Was Parisek in den beiden knackig kurzweiligen Stunden von Nora³ dem Publikum des Volkstheaters präsentiert, ist ein Flechtwerk aus den wichtigsten Handlungselementen des Ibsen-Dramas und zwei Texten von Elfriede Jelinek, die als Prolog und Epilog die Ibsen-Handlung einrahmen. Pariseks Textcollage funktioniert wie eine gute Collage zu funktionieren hat, die einzelnen Puzzleteile fügen sich ineinander, ohne sich zu verspießen oder spießig zu sein.
Thematisch übernimmt Parisek den Kern der Ibsenschen Handlung für seine Neubearbeitung: Nora möchte keine Stütze einer Gesellschaft mehr sein, die ihrem Streben nach Selbstverwirklichung den Weg versperrt, sie lässt ihren Mann und die Kinder zurück und es verdunkelt sich gleichzeitig jegliche Aussicht auf gutbürgerlichen Wohlstand. Was in Pariseks Inszenierung nur selten dunkel wird, ist der Zuschauerraum – die Lichter bleiben meistens an, der Kino-Effekt somit aus, und ungestört Nase bohren kann man auch nicht.
Die Fetzen fliegen
Pariseks Inszenierung setzt nach dem Ausbruch der heimlich Makronen fressenden Nora aus dem Puppenheim und der nur scheinbaren bürgerlichen Familienidylle an. Sie macht sich auf den Weg vom Zuckerpüppchen zur emanzipierten Frau, die in einer männlich dominierten Welt um Selbstverwirklichung ringt. Sie setzt alles auf eine Karte und außerdem auch all ihre Hoffnung in eine Textilfabrik, die kurz vor dem Konkurs steht, und in der sie sich durch ehrliche Arbeit von Torvalds Singvögelchen zur Raubkatze entwickeln will. Statt passive Stütze der Gesellschaft zu sein, macht sie lieber Liegestützen. Schlussendlich bringt es Nora aber nur dazu beim Betriebsfest der Fabrik ihr Leben als Ibsens Nora nachzuspielen und das Spiel im Spiel beginnen zu lassen. Auch der anfänglich herausposaunte Emanzipationsversuch scheitert, denn sie hofft mit ihrer lasziven Darstellung der Nora vor allem den Textilkönig, den Chef der Fabrik, zu beeindrucken.
Streckenweise kammerspielartig geben Stefanie Reinsperger und Rainer Galke also im Spiel im Spiel das Leben von Nora und Torvald zum besten. Es fliegen wortwörtlich die Fetzen, Nora stülpt sich Kostüm über Kostüm über, fliegt gegen die Wand, rutscht an ihr runter und steht wieder auf. Der darauf folgende Zwischenapplaus gehört vor allem Stefanie Reinsperger. Im dritten und letzten Teil des Stücks legt dann Jelinek den Schauspielern wieder die Worte in den Mund, die die mit der für Jelinek typischen Hast und Rastlosigkeit wieder ausspucken. Wortketten und ad absurdum geführte Worthülsen zum Thema Modeerscheinung und Modeindustrie prasseln auf das Publikum ein. Die Themenwahl wundert einen nicht besonders – Jelinek gilt ohne Frage als die bestangezogendste Autorin in Österreich. Schade halt, dass man sie so selten sieht.
„Wie soll man die Bilder nur aushalten?“
Am Schluss wird es dann doch noch wirklich dunkel und der Lichtkegel erfasst nur mehr Stefanie Reinsperger, die über globale Marktzusammenhänge und einstürzende Textilfabriken in Bangladesch doziert. Geht unter die Haut, was man da so am Körper trägt. Wenn sie gegen Ende des Epilogs dann fragt „wie man diese Bilder nur aushalten soll“, fühlt man den eigenen Körper wieder am Boden der Realität aufprallen und das Stück wird plötzlich zu einem Kommentar der aktuellen politischen Situation. Nach zweieinhalb pausenlosen Stunden, fühlt sich der Kopf an wie der Bauch nach einem leicht überfordernden, aber reichhaltigen 3-Gänge-Menü.
Die kommenden Aufführungstermine von Nora³ findet man am einfachsten i>hier.
Stefanie Reinsperger wird auch in der Verfilmung von Cornelia Travniceks i>“Chucks“ zu sehen sein.