„Sie waren saufwütige Bajuwaren – bevor sie zu härteren Sachen griffen“

Auch die Nazis nahmen Drogen und das nicht zu knapp. Genau darüber kann man sich nun im neuen Sachbuch "Der totale Rausch – Drogen im Dritten Reich" von Norman Ohler schlau machen.

Hat sich die nationalsozialistische Drogenpolitik eigentlich stark von der Drogenpolitik anderer Länder in den 30ern unterschieden? Oder waren repressive Verbote damals verbreitet?

Die Nazis waren, was den „War on Drugs“ angeht, Vorreiter. Im NS-Staat wurden Drogenkonsumenten auch in KZs gesperrt – oder in Tötungsanstalten ermordet. Das gab es in keinem anderen Land. In den Zwanzigerjahren hingegen praktizierten Großbritannien und die USA eine restriktivere Antidrogenpolitik als Deutschland.

In Hitlers ,Mein Kampf’ heißt es, weltgeschichtliche Entscheidungen würden während rauschhafter, extatischer Zustände verwirklicht. Der kollektive Rausch war also immer Teil der charismatischen Nazi-Herrschaft?

Auch der Nationalsozialismus strebte transzendente Zustände an: Die NS-Illusionswelt, in die die Deutschen gelockt werden sollten, nutzte von Anfang an Techniken des Rausches zur Mobilisierung. Die NSDAP bestach zum einen durch populistische Argumente, zum anderen durch Fackelläufe, Fahnenweihen, rauschhafte Kundgebungen und öffentliche Reden, die auf die Erreichung eines kollektiven Ekstasezustandes abzielten. Hinzu kamen die „Gewalträusche“ der SA in der sogenannten „Kampfzeit“, häufig genug vom Alkoholmissbrauch befeuert. Realpolitik tat man gerne als unheroischen Kuhhandel ab: Eine Art gesellschaftlicher Rauschzustand sollte die Politik ersetzen.

Hitler wurde im NS-Staat allerdings immer als Abstinenzler dargestellt. Wieso eigentlich?

Hitlers engstem Zirkel gelang es schon während der Weimarer Zeit, das Bild eines ununterbrochen arbeitenden Mannes zu etablieren, der seine Existenz komplett in den Dienst “seines Volkes” stellt. Eine unangreifbare Führungsfigur, einzig und allein mit der Herkulesaufgabe betraut, die gesellschaftlichen Widersprüche und Probleme in den Griff zu bekommen und die negativen Folgen des verlorenen Weltkrieges auszubügeln. Hitler, der für ein „giftfreies Volk“ agitierte, musste selbst als „giftfreier Mensch“ zelebriert werden. Eine der großen Lügen des Nationalsozialismus [Anm. laut Wikipedia bzw. dem Spiegel war Hitler seit 1942 pervitinabhängig].

In der Wehrmacht waren Aufputschmittel verbreitet. Stand die Armee systematisch unter Droge, oder gab es einfach einen lockeren Umgang mit bestimmten Medikamenten? Wie muss man sich das vorstellen?

Für den Frankreichfeldzug wurde im sogenannten Weckmittel-Erlass der Gebrauch von Methamphetamin systematisch geregelt. Über 35 Millionen Dosierungen Pervitin wurden offiziell verteilt. Das war von langer Hand geplant und ist eine äußerst spannende Geschichte.

Hat das nur bestimmte Einheiten der Wehrmacht betroffen?

Die Droge wurde querbeet genommen. Wobei die Panzereinheiten, die den Blitzkrieg erfanden, hier die Speerspitze bildeten.

Das Mathamphetamin Pervitin war wohl so etwas wie die Droge der NS-Leistungsgesellschaft. Wie müssen wir uns den Verbreitungsgrad heute vorstellen?

Pervitin wurde von allen Bevölkerungsschichten geschluckt. So wie heute z.B. ein Latte Macchiato die extra Portion Energie gibt, griff man damals zur Pille.

Weiß die historische Forschung von besonderen Gewaltexzessen oder Kriegsverbrechen von SS und Wehrmacht, die im Zusammenhang mit Drogen stehen?

Das ist noch zuwenig erforscht. Historiker wissen kaum etwas über Drogen im Dritten Reich.

Wenn das Dritte Reich so „drauf“ war, waren Nachkriegszeit und Wirtschaftswunder dann Jahre des Katers, oder auch diese Epoche toxischer als allgemein angenommen?

Das deutsche Wirtschaftswunder der Fünfzigerjahre war pervitinangetrieben. Viele Leute waren noch süchtig und haben die Pillen weiter geschluckt. Auch die deutsche WM-Elf in Bern 1954 war im Endspiel alles andere als nüchtern.

Wer waren die Dealer des Staats, welche Unternehmen profitierten und gibt es sie noch heute?

Pervitin wurde von der Firma Temmler produziert. Sie ist heute einer der größten europäischen Anbieter für pharmazeutische Auftragsherstellung. Die Droge vertreibt Temmler seit 1988 nicht mehr.

"Der totale Rausch – Drogen im Dritten Reich" von Norman Ohler erscheint am 10. September im Kiepenhauer & Witsch Verlag. Wer das ganze Mal in Audio-Form mit der Stimme des Autoren persönlich genießen möchte, kann sich diese Lesung hier auf Youtube anschauen.

Bild(er) © Joachim Gern / Kiepenheuer & Witsch Verlag
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