Sind wir wirklich alle Opfer?

Utl. Das Wiener Autorenduo Dussini und Edlinger vermisst in seinem Buch „in Anführungszeichen „ Anspruch und Wirklichkeit des Kampagneninstruments Political Correctness.

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In den letzten fünfundzwanzig Jahren hat ausgehend von den Vereinigten Staaten das Konzept der Political Correctness einen beispiellosen Siegeszug angetreten. Unter dem Begriff firmieren nicht nur diverse Sprachregelungen wie geschlechterkorrekte Ansprache, sondern auch Einschränkungen der persönlichen Freiheit wie Rauchverbote im öffentlichen Raum. Das prädestiniert PC zu einem beliebten Streitthema der Medienöffentlichkeit.

Die beiden Wiener Journalisten Matthias Dussini und Thomas Edlinger analysieren in ihrem Band „In Anführungszeichen“ die Entwicklung und die Bedeutung dieses umstrittenen Kampfbegriffs. So viel steht fest, kalt lässt PC niemanden. Für PC Befürworter dient es als emanzipatorische Popularisierungsmaschine als Mittel zur Revolte, das aus einer Position der Schwäche zum Einsatz kommt. In dieser Lesart ist PC ein wirksames Werkzeug zur Herstellung von Gegenöffentlichkeiten. Wer etwa an den Wiener Life Ball denkt, wird nicht umhin können zuzugestehen, dass der Kampf für mehr öffentliche Sichtbarkeit von Aidskranken ein wertvoller Beitrag war. Für die Gegner der Policitical Correctness bringt das Konzept aber unwiderbringlich eine Einschränkung von Freiheit und Souveränität mit sich.

Beide Positionen besitzen einen wahren Kern. Durch PC wurden Rechte und Anliegen von Frauen, Homosexuellen, Behinderten und anderen Minderheiten erstmals sichtbar. Es ist zweifellos ein demokratischer Fortschritt, dass sich heute kein Bürger mehr straffrei und abfällig sich über Schwächere erheben kann und Politiker mit Hasssprache unbehelligt agitieren können.

Ist der Raucher der wirkliche Feind?

Aber auch die Gegner bringen valide Argumente vor: Durch PC beeinträchtige die Politik die persönlichen Freiheitsrechte des Einzelnen massiv und ein Klima des Vernaderns und des Tugendterrors entstehe. Wer ungesund leben möchte, solle das tun, wenn er dadurch nicht die Sozialversicherung, sondern nur sein Privatkonto belaste, zumal es eben auch ein Recht auf ungesundes Leben gebe. Wenn etwa Rauchverbotszonen immer weiter ausgeweitet werden und Steuern auf fettes Essen und gezuckerte Limonaden gefordert werden, seien das Indizien für eine Klima der Inquisition und der Sinnesfeindlichkeit.

Nach den Rauchern werden Dicke, Alte und Trinker als nächsten Zielscheiben der puritanischen Säuberungsbewegung ausgerufen. Überhaupt fällt auf, dass ständig neue Opfergruppen medial konstruiert werden und einen nie versiegenden Opferstrom hervorbringen. Galt der Fokus in den Neunziger Jahren noch den Homosexuellen, hat sich dieser heute hin zu Transgender und Geschlechtslosen verschoben.

Mittlerweile ist dadurch das ehedem politisch korrekte Binnen I selbst wieder Zielscheibe der Sprachkritik. Schließlich diskriminiere das Binnen I Transgender-Bürger und all jene, die sich nicht auf ein bestimmtes Geschlecht festlegen möchten. Wer als up to date sein will, muss vor dem Binnen I einen Unterstrich und ein Sternchen einfügen, um damit auch Transgender und geschlechtslose Mitbürger adäquat zu repräsentieren.

Auch andere, noch vor zehn Jahren als ultrakorrerkt firmierende Minderheitenbeschreibungen sind längst nicht mehr en vogue: Die Bezeichnung Schwarzer und Afro-Österreicher sind ebenso heftig umstritten wie das Wort Migrationshintergrund, da diese Begriffe – so die Kritiker – Unterschiede weiterführen und sichtbar machen anstatt einzuebnen. Vertreter der Sinti und Roma Subethnie Zigeuner beschweren sich darüber, dass sie nicht mehr Zigeuner genannt werden, da dieses Wort keinesfalls diskriminierend sei, sondern nur die korrekte Bezeichnung für Angehörige ebenjener spezifischen Roma Ethnie, der sie nun mal angehören.


Jagdnach der goldenen Korrektheit

Neben der permanenten Suche nach dem korrektesten Begriff, die oft zu Spiegelfechtereien und unfreiwillig komische Debatten führt, weisen Dussini und Edlinger auf eine weitere Seltsamkeit des politisch korrekten Sprechens hin. Ständig werden medial neue Opfergruppen konstruiert, die dann in einen Wettstreit untereinander treten. Gegenwärtig, so spötteln die beiden Autoren, werde etwa die Opfergruppe der Transgender Sinto beim Holocaustgedenken medial nicht ausreichend dargestellt und mit Gedenktafeln gewürdigt.

Überhaupt fühlen sich immer mehr Bürger diskriminiert, je länger PC als politisches Kampangeninstrument existiert. Mittlerweile inszenieren sich auch heterosexuelle weiße Männer – man denke an Thilo Sarrazin, der sich in den auflagenstärksten Medien laustark darüber erregt, dass seine Argumente diskriminiert werden – und Anhänger neonazistischer Politiker als verfolgte Minderheit. Der unlängst in Hamburg verhaftete und sich offen als Neonanzi bezeichnende Skinhead Sebastian N. hat in einem Interview darüber lamentiert, dass man heutzutage in der Schweiz als Neonazi „diskriminiert“ werde.

Diese Beispiele belegen anschaulich, dass sich heute auch dezidiert nicht als emanzipatorisch verstehende Anspruchsgruppen der PC-Rhetorik bedienen, um einen Persilschein für ihr Verhalten zu erhalten. Dass permanent neue gefühlt oder tatsächlich diskriminierte Opfergruppen auftauchen, gehört laut Dussini und Edlinger zum Wesenskern von PC. PC als Prozess des vielfältigen und teils pathologischen Kampfes um Anerkennung per se sei nicht abschließbar, weil sich die Demokratie nicht anders denken lasse denn als Umverteilungsunternehmen in Permanenz. PC sei also eine genuin demokratische Sprechweise.

Symbolpolitik ersetzt Realpolitik

Dieser Autorenthese möchte ich widersprechen, da der Kern der PC Bewegung vielmehr ein apolitischer zu sein scheint. Just zu dem Zeitpunkt, wo die Politik ihre Basisaufgaben – Infrastruktur , Vollbeschäftigung, funktionierender Sozialstaat – augenscheinlich immer weniger wahrnimmt, entdeckt sie für sich die kostengünstige Rolle der Gouvernante. Es ist Fanal für die schwindende Macht der Realpolitik, wenn beispielsweise die Grünpolitikern Eva Glawischnig Zigarettenautomaten im öffentlichen Raum verbieten will, von ihr aber keine Konzepte zur Bankenregulierung oder zu Beschäftigungsoffensiven vorliegen.

Die Politik nützt PC als Vehikel um symbolisches Kleingeld und Wählerstimmen mit Sprachregelungen und der Normierung gesellschaftlichen Verhaltens abzuschöpfen, weil sie nicht mehr in der Lage ist, bei harten Politikfeldern Erfolge zu erzielen. Auch vier Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise sind die Staatsfinanzen nicht saniert, keine Regulierung des außerbörslichen Derivathandels erarbeitet und Konzepte für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum fehlen abseits keynsianischer Gemeinplätze ebenso. Kritisch könnte also schlussgefolgert werden, dass PC ein Ablenkungsmanöver darstellt, welches das Wesen des Politischen nicht mehr berührt. PC begünstigt eine kulturalistische Verkürzung von Politik, die die ökonomische Basis und die doppelte Entwertung von Arbeit und (Wert-)Produktion in der globalisierten Wirtschaft negiert und sich mit Systembehübschungen begnügt.

Es scheint so, als hätten die soziale Marktwirtschaften ihren Kampf um ökonomische Teilhabe möglichst aller am gesellschaftlichen Reichtum zugunsten einer Symbolpolitik geopfert. Die Moral ersetzt das Fressen. Die Bürger haben das Recht, Müll zu trennen, aber nicht länger das Recht auf eine kündigungssichere Fixanstellung. Man kann schließlich bequemer in Parlamenten über Rauchverbote, Glühbirnenverbote, geschlechtsneutrale Bundeshymnen und Quotenregelungen debattieren als eine nachhaltige ökonomische Basis zu verwirklichen.

Das bringt Auflage, tut den Mächtigen nicht weh, erregt den Stammtisch und blendet elegant das Verschwinden des Politischen aus. Welche ökonomischen und gesellschaftlichen Kräfte profitieren nun aber vom bislang von den Parteien unwidersprochen Siegeszug des PC Diskurses? Auf diese Frage vermag das Buch leider keine Antwort zu geben.

"In Anführungszeichen. Glanz und Elend der Political Correctness" von Matthias Dussini/Thomas Edlinger ist bereits bei Edition Suhrkamp erschienen. Berlin 2012, ISBN 978-3-518-12609-7]

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