Hyperaktive Akkordeon-Sounds, quengelnde 80er-Synthesizer, vibrierende Triller und pulsierende 90er-Techno-Beats: Wer schon mal durch die Straßen Wiens geschlendert ist – egal zu welcher Tageszeit –, hat dabei sicher an irgendeiner Ecke Turbofolk gehört. Warum Turbofolk weitaus mehr ist als nur Musik. Ein Essay.
Etwas subtiler sind die Texte von Svetlana »Ceca« Ražnatović, des mit Abstand problematischsten Turbofolk-Stars, aber dazu komme ich gleich. Ihre Songs handeln von passiven, pathetischen Schicksalen von Frauen, die doch nur geliebt werden wollen und die für diese Liebe alles tun würden – bis hin zur kompletten Selbstaufgabe. In ihren Videos zeigt sie sich mit tiefem Dekolleté, leicht bekleidet und in Begleitung von überpotenten Schönlingen, weil sich anscheinend auch der Balkan nach seinen eigenen Marky Mark sehnte. Im Video zu »Znam« aus 1994 räkelt sich Ceca auf einem Sessel, den sie anscheinend vom McDonald’s-Schanigarten gestohlen hat und trällert, dass sie ihr Fuckboy gerne ausnutzen dürfe, sie nehme es hin. Er könne sie ruhig für »nur eine Nacht nehmen und dann für immer gehen«. In »Neumoljiv, neudoljiv« (1996) singt Ceca: »Ich bin heute Nacht nur eine von vielen, mit denen du heute nicht hier bist. / Wieso will ich immer wieder zum guten, alten Unglück zurück?« In ihren Videos trägt sie schwere, glitzernde Klunker, perfekt manikürte Gelnägel, trägt innerhalb von drei Minuten circa tausend verschiedene Outfits. Der Kitsch schreit einen förmlich an. Und: Es geht immer um irgendeinen Lover, weil man halt eine leidende und liebende Frau ist. Man ist seinem Schicksal restlos ausgeliefert. Generell geht es im Turbofolk viel um Fuckboys und sie heißen meistens Dragan. Immer macht ein Dragan Stress und ich weiß ehrlich gesagt nicht, warum es immer Männer mit diesem Namen sind, mit denen alle Heckmeck haben. Lasst euch auch nicht von den fröhlichen Up-Beats der Lieder beirren, es geht meistens um Trennungsschmerz und Betrug. BalkanerInnen feiern gerne ihren Heartbreak und suhlen sich leidenschaftlich in Herzschmerz-Melancholie.
Es lohnt sich übrigens, Lepa Brenas Videos aus dieser Zeit mit denen der anderen Stars wie Ceca zu vergleichen. Denn dann erhärtet sich der Eindruck, dass Brena die komplette Turbofolk-Szene verarscht. Brena sieht in den Clips aus, als hätte ihr gerade jemand das Konzept von Faschingsumzügen erklärt. In »Moj se dragi englez pravi« (1994) singt sie tatsächlich darüber, dass ihr Mann sie nicht mehr beachtet, weil er lieber Englisch lernt und deswegen liebt sie ihn jetzt nicht mehr. Und ihr dürft raten, wie der Mann heißt. Ja, er heißt DRAGAN! Wenn man sich noch ein paar ihrer Videos aus der Zeit zwischen den Kriegen und dem Embargo gegen Serbien ansieht, erkennt man ein Muster aus überzogen schlechten Special Effects, grottigen 3-D-Animationen und übertrieben komödiantischen Outfits. Generell scheint sich Lepa Brena im Gegensatz zu ihren KollegInnen der Szene nicht allzu ernst zu nehmen, was sie sehr sympathisch macht. Wen ich hier noch kurz erwähnen muss, ist Dragana Mirković, sie war noch vor Ceca ein großer Neo-Folk-Star, hat aber ein paar 90s Songs, die komplett von Turbofolk befreit sind. Anscheinend hat sie versucht, einen komplett westlichen Trance-Electro Pop durchzusetzen. Diesen »Modernisierungsversuch« hat ihr aber niemand angerechnet. Meine Annahmen: Ihr Werk war Serbien dann doch zu Amerikanisch und außerdem schwingen diese Boys hinter ihr Snowboards. Ich glaube, Serben haben den Wert von Snowboards nicht erkannt: Es sind keine Juwelen, es ist kein Gold – was soll das also? Der Text ist auch sehr gleichberechtigt, weil hier die ProtagonistInnen nicht betrogen werden, sondern aktiv betrügen. Der Typ sagt: »Hey, du hast einen Freund, aber lass uns schmusen.« Und Dragana sagt: »Hey, du hast eine Freundin, aber ich werd‘ jetzt mit dir schmusen.« Und dann kommen aus irgendeinem Grund die Snowboards ins Spiel.
Aber kommen wir endlich dazu, warum Ceca der problematischste Turbofolk-Star ist. Ceca war mit dem größten serbischen Kriegsverbrecher der Jugoslawienkriege verheiratet: Željko Ražnatović, besser bekannt als »Arkan«, gründete 1990 die paramilitärische Truppe »Arkans Tiger«. Sie waren an »ethnischen Säuberungen« aller »Nicht-Serben« in Kroatien und Bosnien beteiligt, hunderte ZivilistInnen wurden von Arkans Freiwilligengarde massakriert und vergewaltigt. Das gleiche richtete er im Kosovo-Krieg an. Unter Miloševićs Regierung kaufte er den Belgrader Fußballklub FK Obilić. Nicht, weil er Fußball so toll fand, sondern um damit Geld zu waschen und Club-Hooligans für politisch motivierte Verbrechen einzusetzen. Vielleicht fand er Fußball auch toll, ich weiß es nicht.
Wenn es irgendetwas gibt, das für Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft von Vorteil ist, dann ist es, die »Ich bin doch nur eine naive Frau«-Karte auszuspielen. Diese Karte hat Ceca professionalisiert: »Ich war nur eine Frau, die sich in einen Mann verliebt hat. Ist das ein Verbrechen?«, wiederholt sie immer wieder, wenn sie in Interviews auf Arkan angesprochen wird. In Wahrheit ist es ein offenes Geheimnis, dass er ihr Verbindungen und tragende Rollen in Serbiens Unterwelt vermacht hat. Konkurrentinnen wie Jelena Karleuša (zu ihr später mehr), die regelmäßig Beef mit Ceca haben, erwähnen in Interviews semi-subtil: »Wir wissen ja, wer ihre Leute sind.« Damit spielen sie darauf an, dass Ceca 2003 wegen illegalen Waffenbesitzes und angeblichen Beziehungen zu den Mördern des Ministerpräsidenten Zoran Djindjić verhaftet und 2011 zu Hausarrest verurteilt wurde, weil sie mit dem FK Obilić fünf Millionen Euro an Steuern unterschlagen hat.
Unwissend, unpolitisch und unschuldig, wie Ceca gerne vor Kamerateams tut, ist sie also nicht. Unpolitisch schon alleine deshalb nicht, weil die Texte ihrer größten Hits von Arkan handeln. Vor allem ihr Song »Pile« (Küken), den sie nach dem Attentat auf Arkan im Jahr 2000 – Täter und Motive sind bis heute unklar – herausbrachte, macht das im Refrain sehr deutlich: »Fliege allein weiter, schau nicht nach unten. / Meine Tränen fallen in deine Richtung. / Meine Tränen fallen nach oben.« Ich wär gerne einmal in meinem Leben so optimistisch, wie die Frau eines verstorbenen Kriegsverbrechers, die denkt, wenn sie wegen ihm weint, fallen die Tränen Richtung Himmel und nicht nach unten.
Es hat sich noch lange nicht ausgefolkt.
Ab 2000 wurde der Turbofolk immer weniger »turbo«. Ultrarechte und patriarchale Strukturen haben sich in Serbiens Politik leider noch gehalten, aber die Propaganda ist aus der Musik langsam verschwunden. Neue, westliche Einflüsse aus RnB, EDM und Hip Hop wurden mit klassischen Folklore-Elementen neu interpretiert – weil jene anscheinend als feste Komponenten in der Musik der ex-jugoslawischen Staaten immer beizubehalten sind. Zu dieser Zeit machte die serbische Pop-Künstlerin Jelena Karleuša, »JK«, auf sich aufmerksam, die nach dem ultrakonservativen Turbofolk der 90er als erste Sängerin einen emanzipatorischen Zugang zum (Turbo-)Pop-Folk ermöglicht hatte. Ihre Texte handeln von einem egoistischen und hedonistischen Lifestyle als erfolgreiche Frau, die tut und lässt, was sie will – unter anderem zu beobachten in »Slatka Mala« (Süße Kleine), »Baš je dobro biti ja« (Es ist echt gut, ich zu sein), oder »LaJK« (Like). Sie provoziert nicht nur wegen ihres auffälligen Modestils und ihrer blasphemischen Musikvideos, sondern liefert sich auch hitzige TV-Diskussionen, in denen sie regelmäßig LGBTIQ-Rechte verteidigt. Sie ist auch diejenige, die die Nachwehen des 90er-Nationalismus Serbiens und seine noch immer vorhandenen mafiösen Verbindungen anklagt. Als die Hochzeit von Cecas Sohn Veljko Ražnatović, genauso wie die seiner Eltern vor 25 Jahren live im Fernsehen ausgestrahlt und medial gefeiert wurde, äußerte sich JK kritisch in ihrer Instagram-Story: Serbien würde auch ein Viertel-Jahrhundert später von Kriminellen gesteuert werden.
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