Hyperaktive Akkordeon-Sounds, quengelnde 80er-Synthesizer, vibrierende Triller und pulsierende 90er-Techno-Beats: Wer schon mal durch die Straßen Wiens geschlendert ist – egal zu welcher Tageszeit –, hat dabei sicher an irgendeiner Ecke Turbofolk gehört. Warum Turbofolk weitaus mehr ist als nur Musik. Ein Essay.
Mit Karleuša zog dieser Trend bei immer mehr Künstlerinnen nach – ich würde fast behaupten, sie hat ihnen den Weg geebnet. Frauen begannen mit dem neuen Millennium immer mehr, ihre Freiheit und ihr Recht auf Wut und Egoismus zu besingen. Nikolija 2019 singt in »Dama bez pardona« (Lady ohne Vergebung): »Du kannst mich nicht kaufen / Diesen Arsch kannst du nicht begrapschen / Wenn ich rede, bist du leise« Auch tauchen immer mehr Frauen in der Rap-Szene auf, allen voran Mimi Mercedez. Sie gibt an, selbst großer Turbofolk-Fan zu sein und benutzt ihn in manchen ihrer Songs, um parodistische Referenzen zu verpacken. In »Učiteljica Ljubavi« (Lehrerin der Liebe) feiert sie ihre Promiskuität und schreibt für den Refrain Lyrics von Ceca um, in denen es um eine betrogenen Frau geht, die ihren Mann gehen lässt. Aus »Geh wohin du willst / Küsse alles mögliche / Aber behalte zumindest ein bisschen Niveau bei«, machte Mimi: »Geh wohin du willst / Küsse alles mögliche / Aber nimm am Rückweg Bier mit«. Ihr Feature mit der Turbofolksängerin Stoja in »Zena Sa Balkana« (Frau vom Balkan) dreht den Spieß der Sponzoruša um: »Geld bleibt an schönen Frauen kleben / Aber starke Frauen rauben Banken aus / Hör auf mit deinen Geschichten, bestell was zum Trinken / Das geht heute Nacht auf uns.« Generell wird die Stärke der Frau nicht etwa einer bestimmten Nation, sondern »vom Balkan« besungen und richtet sich somit an alle Frauen im Südosten Europas.
KünstlerInnen benutzen heute mal mehr, mal weniger (Turbo-)Folk-Elemente in ihrer Musik. Eine der erfolgreichsten Sängerinnen in der heutigen Szene ist die Slowenin Senidah, »Balkans Trap-Queen«, die in Österreich durch ihr Feature mit Raf Camora bekannt wurde.
Turbofolk wird mit den düsteren Ereignissen in den Jugoslawienkriegen und mit serbischem Nationalismus in Verbindung gebracht, wurde und wird aber auch außerhalb der Grenzen Serbiens gehört und ist am ganzen Balkan wie in Bulgarien, Rumänien oder Griechenland populär. Das Genre wird von genauso vielen Menschen geliebt wie es gehasst wird, weil es noch immer mit pathetischem Kitsch und einer niedrig-gebildeten Bevölkerungsschicht assoziiert wird. Es ist eben keine Hochkultur, es mag – zynisch gesagt – das Dschungelcamp der Musikgenres sein. Dass das Genre einen hochpolitischen Background hat, ist nicht allen bewusst, oder es ist ihnen nicht wichtig, weil sie einfach nur die Musik mögen. Cecas Konzerte werden in der Diaspora noch immer gut besucht, auch von KroatInnen und BosnierInnen. Dazu gab es 2013 im Magazin Biber einen Artikel von Jelena Pantić, die das Publikum zu Cecas kriminellem Background interviewte: Viele kaufen ihr ab, »nur« die Frau eines Kriegsverbrechers zu sein, selber aber nichts damit zu tun haben. Und auch viele meiner bosnischen, kroatischen und serbischen FreundInnen hören sie. Um eine Freundin zu zitieren: »Es ist halt die beste Break-Up Musik.« Für mich ist Turbofolk vor allem Kindheitserinnerung: bläulich-ausgeblichene (weil Schwarzmarktkopien) Kassetten- und CD-Covers von Folk-Stars am Armaturenbrett; Brena, Sneki, Ceca und Dragana, die wie überdimensionale Barbiepuppen im Fernsehen zu catchy Melodien herumhüpfen. Turbofolk ist, wenn du an einem Hochsommertag angefressen und schwitzend von der Arbeit heimgehst, die Stadt nach urinspeicherndem Beton riecht, als ob jemand in eine Heizung rein gepinkelt hätte, dann ein Audi an dir vorbei zischt, aus dem Akkordeon-Techno und orientalische Triller zu hören sind, und man deswegen lachen muss.
Aber vor allem ist dieses eigenartige Genre, das mit Erinnerungen und Schmerz verbunden ist, ein wichtiger Anknüpfungspunkt zu anderen Diaspora-Jugos. Das konnte ich auch bei der neuen Diaspora-Generation beobachten: Ich sitze wie eine alte Schabracke vor diesem TikTok und lache über Videos von 10 Jahre jüngeren BalkanerInnen, die relateable Geschichten mit Turbo- oder Pop-Folk-Musik im Hintergrund erzählen. Nur BalkanerInnen können da mitfühlen. Und noch etwas habe ich über die neue Diaspora-Generation auf TikTok gelernt: Anscheinend nennen die Kids Sebastian Kurz »Zeki Kurac«.
Auf dem Instagram-Account @tvarhiv gibt es eine Sammlung an witzigen, skurrilen und absurden Neo- und Turbo-Folk Videos. Mit Vanja als @mistervanja kann man auf Instagram weiter über Turbofolk diskutieren.