Verdrängung um jeden Preis — Stefan Sonntagbauer forscht an der »Horror Academy«

Wie identifiziert man den spezifisch österreichischen Horror? Stefan Sonntagbauer, der derzeit an der Uni Wien seine Dissertation zum Thema Horror und Subjektivität verfasst, sucht nicht im Genre-, sondern im Unterhaltungsfilm. Mit seiner »Horror Academy« will er die bisher weitgehend unerforschte Nische mit Interessierten teilen.

© Carina Antl — Stefan Sonntagbauer will die Horror-Community vernetzen.

»Muttertag« – ein österreichischer Horrorfilm? Das sagt zumindest der österreichische Horrorexperte Stefan Sonntagbauer. Im Horror gehe es stets darum, dass Verdrängtes wieder an die Oberfläche dringt und die Figuren verfolgt. »Muttertag« sei dabei eine ganz spezielle Form des Horrorgenres, die man nur in Österreich finden könne. Und das vor allem in jenen Filmen, die gar nicht als klassischer Horror gedacht waren. »In ›Muttertag‹ bricht die Verdrängung nicht irgendwann durch, sie hört gar nicht erst auf.« Die österreichische Raison d’Être: sich einreden, dass eh alles ganz super ist.

Sonntagbauer, der derzeit an der Uni Wien seine Dissertation zum Thema Horror und Subjektivität verfasst, hat sich mit der Beforschung des dezidiert österreichischen Horrors eine bisher weitgehend unbearbeitete Nische ausgesucht. Eine Leidenschaft, die der gebürtige Welser nun auch mit anderen teilen möchte: Im kommenden Frühjahr soll seine »Horror Academy«, ein von ihm gestalteter Vlog, online gehen. Damit will er »die spannendsten, interessantesten und aufregendsten Themen mit der ganzen Horrorcommunity teilen«. Die »Academy« soll als Forum dienen, in dem sich die Fans sowohl mit den Forschenden als auch mit den Künstler*innen vernetzen können. Denn so, zeigt sich Sonntagbauer überzeugt, könne »ein richtig geiler Austausch« passieren.

Zum Horror ist Sonntagbauer bereits als Kind gekommen. »In der Videothek hat es immer diese Ecke mit den verbotenen Filmen gegeben. Das hat mich damals schon angezogen.« Ein weiterer Einfluss sei der eigene Vater gewesen: »Der war sehr belesen und hat irgendwie einen schrägen Geschmack gehabt.« Für ihn und seinen jüngeren Bruder stand da etwa »Der Struwwelpeter« auf der Leseliste – eine Geschichtensammlung des Frankfurter Arztes Heinrich Hoffmann, in der Kinder nach unvorsichtigem Verhalten drastische Konsequenzen erfahren. »Andere Kinder haben dabei immer angefangen zu weinen, mir hat das aber extrem getaugt.«

Von der Wiege

Spaß an abgeschnittenen Daumen und verbrennenden Kindern? »Es geht darum, dass das so ins Extreme geht. Dieses Überspannte, Exaltierte, das Karnevaleske.« Die kindliche Leidenschaft schwappte dann im Studium ins Wissenschaftliche über. »Im Studium habe ich das Glück gehabt, dass die Professoren mich da unterstützt haben.« Mit wissenschaftlichen Arbeiten, etwa über Dracula, konnte Sonntagbauer seine Leidenschaft weiterverfolgen.

Zur Berufung wurde der Horror für Sonntagbauer nach der erstmaligen Lektüre von H. P. Lovecraft, einem der wichtigsten amerikanischen Horrorautoren. Der Schöpfer gruseliger, fremdländischer Monster wie des dämonischen Krakenwesens Cthulhu hat seine Spuren quer durch die Populärkultur hinterlassen. »Ich bin irgendwann in der Nacht heimgefahren, und das Buch hat dann noch so nachgewirkt, dass ich mit 22 Jahren in der Garage gesessen bin und mir gedacht habe: ›Zach, jetzt traue ich mich nicht mehr aussteigen.‹« Die Tatsache, dass ihm noch etwas Angst einjagen kann, sei frustrierend gewesen. Aber: »Das hat irgendwas in mir angezündet, danach habe ich mich so richtig in die Forschung reingehauen.«

Über den Horror sei er auch schnell zu den psychologischen und philosophischen Themen gekommen, die unter der Horroroberfläche stecken. Wo wieder die eingangs erwähnte Verdrängung ins Spiel kommt: »Wir haben den Tod an den Rand gedrängt – und dann kommen die Toten wieder hoch. Meine Hypothese ist, dass Horror sich mit der Idee konstituiert, dass der Mensch selbst entscheiden kann, wer er ist. Dass er rausgehen kann in die Welt und aus der Welt machen kann, was er will. Und da tauchen dann neue Ängste auf, auf die der Horror reagiert.« Ein klassisches Beispiel wäre für ihn der Ursprung des neuzeitlichen Horrorgenres: Mary Shelleys »Frankenstein«. »Das Monster ist halt so, kann aber gar nichts dafür. Das ist einfach so gemacht worden von jemandem, der gar nicht wusste, was er da eigentlich tut.«

Alpenlandgrusel

Doch was lässt sich daraus für den österreichischen Horror ableiten? Ein Land, das eher weniger für dieses Genre bekannt ist, auch wenn es beinahe Handlungsort von Bram Stokers »Dracula« gewesen wäre. Bisherige Versuche, hier eine eigene Sprache zu entwickeln, hebt Sonntagbauer lobend hervor. Auf Filme wie »In 3 Tagen bist du tot« von Andreas Prochaska könne man stolz sein. Aber sie würden nicht wirklich eine eigene Version von Horror entwickeln. »Das hätte in Amerika durchaus so ähnlich gemacht werden können.«

Der Hauptunterschied sei, dass die USA »diesen fetten American Dream und diese brutale Selbstbegeilung« hätten. »Spider-Man vor der amerikanischen Fahne«, laute das Credo. »Und die Leute springen im Kino auf, weil es ihnen so taugt.« Gleichzeitig gäbe es in den USA aber auch viel Albtraumhaftes. Das Amerika von Hollywood und Spider-Man, in dem jeder frei ist, sei die eine Seite. »Und dann gibt es das Amerika der Slasher, wo keiner eine Chance hat. Wo einfach der Wahnsinn regiert.« Diese zwei Ebenen gebe es in Österreich nicht. »Bei uns ist das zusammengeschlossen in einem Ganzen.« Teilweise herrsche der Konsens, dass man sich diesen Hurra-Patriotismus gar nicht erlauben könne, nach dem, was im Zweiten Weltkrieg alles vorgefallen ist. »An der Österreichflagge wird kein Superheld vorbeifliegen. Wir haben eine andere Art der Kritik und Selbstkritik und eine andere Art des Umgangs mit uns selbst.«

Der Film »Muttertag« von Harald Sicheritz – laut Stefan Sonntagbauer typisch öster­reichischer Horror (Foto © Harald Sicheritz)

Um die ureigenen österreichischen Motive genauer zu erforschen, musste Sonntagbauer daher fast Pionierarbeit betreiben. Beziehungsweise international ausgerichtete Filme aussortieren, da diese andere Motive und Diskurse kopierten. Auftritt »Muttertag«: »Ich habe ›Muttertag‹ gesehen und mir gedacht, das ist es!« Der Urtext der Horrortheorie schreibe zwar die Wiederkehr des Verdrängten vor, in »Muttertag« sei dies aber genau andersherum: »Da hat jeder sein Geheimnis und das steigert sich dann bis hin zum Mord, damit auch ja nichts wieder hochkommt.« Die Figur der Evelyn werde umgebracht, weil sie die schmutzigen Geheimnisse von allen kenne. »Da verschwört sich die Familie, damit nichts rauskommt. Am Ende gibt es dann ein Grillfest. Das hat für mich dieses Österreich-Kolorit. Der Horror besteht nicht in der Auflösung der Verdrängung, sondern eben darin, dass die Verdrängung nicht endet.« Der österreichische Wesenszug zu sagen: »Was ist denn? Ist doch eh gemütlich.«

Anpacken

Dieser Unwille, Dinge aufzuarbeiten, lasse sich laut Sonntagbauer auch aus der Geschichte ableiten. Die zwei Weltkriege, an denen man Mitschuld trägt, die viel zu spät einsetzende Aufarbeitung der NS-Gräuel und der Mittäterschaft. »Es gibt nach wie vor nicht wirklich einen Konsens, der sagt: ›Wir waren beim Holocaust dabei, das war furchtbar.‹« Dabei hätten sich eigene Diskursformen herausgebildet, etwa das Sudern: »Man sagt: ›Wir wollen nicht, aber wir müssen ja.‹« Das habe für ihn etwas typisch Österreichisches. »Ein verkappter Versuch der Aufarbeitung, bei dem aber trotzdem diese Verdrängung einfach weiter insistiert.«

Soll die entstehende »Horror Academy« hier als ein Aufarbeitungstool dienen? Sonntagbauer verneint: »Um historische und persönliche Traumata aufzuarbeiten, braucht es mehr als einen Vlog.« Sein Forum könne dafür aber andere Aufgaben erfüllen. »Da Horror einfach großartiges Entertainment ist, ist es damit möglich, Menschen Themen näherzubringen, die sie sonst nicht so gern und gut aufnehmen.« Wie etwa, warum Nachbarin Evelyn letztendlich am Grill landen musste.

Die »Horror Academy« soll im Frühjahr 2023 starten. Stefan Sonntagbauer ist als @stefan.sonntagbauer auf Instagram zu finden. Seine bisherigen Bücher sind im Holzbaum Verlag erschienen.

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