„Assassin’s Creed: Syndicate“ macht nicht nur atmosphärisch vieles richtig – letztlich darf aber auch wieder vieles gestrichen werden.
Rauchende Schlote über spärlich beleuchteten Fabrikshallen in denen Kinder Kohle schaufeln, imperiale Straßenzüge die eher von den Gangs beherrscht werden, als von den lustig behelmten Polizisten und Kneipen am Eck, in denen Marx, Dickens oder Darwin über einem Bier ihre Weltbilder diskutieren: Das ist die Atmosphäre, die die „Assassin’s Creed“-Reihe seit langem auszeichnet. Anfänglich war es die Verbindung von Atmosphäre und Handlung, aber um so offener die Spielwelt, desto zweitrangiger die Handlung. Das Meisterstück von „The Witcher 3“, das die beiden nebeneinander zur Höchstform auflaufen ließ, sucht weiterhin seinesgleichen.
Das Viktorianische London in „Assassin’s Creed: Syndicate“ setzt wieder neue Maßstäbe. Da pulsiert das Leben in den Gassen, durch die sich neben Menschen vor allem Kutschen drängen. Tageszeiten, Wetter und Smog verändern die Farben der Stadt und das nebeneinander von Reichtum und bitterer Armut als gegenpolige Folgen des rasanten Fortschritts prägen die Szenen des öffentlichen Lebens.
Fast alles ist stimmig und fühlt sich echt an – solange man nur zusieht. Denn die Aktivitäten der Assassinen – erstmals sind mit den Geschwistern Frye ein Mann und eine Frau wechselweise spielbar – führen zu Brüchen in der konstruierten Realität. Die sind manchmal recht amüsant, etwa wenn zwei Straßenkinder in einer Toreinfahrt zum unüberwindbaren Hindernis werden, manchmal zerstören sie die gelobte Atmosphäre – vor allem immer dann, wenn das Missionsdesign dazu zwingt, eine Kutsche zu kapern. Dann ist „Assassin’s Creed“ plötzlich „GTA“ und Laternen fliegen durch die Luft, während sich das liebevoll inszenierte Straßenleben in absurdem Chaos auflöst. Und spätestens wenn eine Kutsche, zwischen zwei anderen verkeilt, rückwärts auszuparken versucht, gibt sich der Assassinen-Epos einen Augenblick lang der Lächerlichkeit preis.
Auch abseits des Wagenverkehrs ist „Syndicate“ beileibe nicht fehlerfrei. Aber auch in ihrer Gesamtheit sind die diversen Macken ein akzeptabler Preis für eine enorm lebendige Spielwelt, die sich frei erkunden und Stück für Stück erobern lässt, die aber vor allem auch während der durchaus abwechslungsreichen Missionen unterschiedlichste Herangehensweisen ermöglicht.
Ubisoft bastelt und schraubt kontinuierlich an vielen Elementen seiner erfolgreichen Spiele-Reihe. Da gab es schon einige Fehlgriffe, wie die Tower Defense-Passagen in Istanbul, aber auch Highlights wie die Seeschlachten in der neuen Welt. Die Kutschen werden wohl wieder eingemottet, dafür haben Missions- und Leveldesign sich abermals weiterentwickelt. Jetzt wär’s an der Zeit der Handlung wieder mehr Gewicht zu verleihen. Denn hier wird momentan wohl das meiste Potenzial verschenkt.
»Assassins Creed: Syndicate« ist bereits erhältlich.