Langweilige US-Soaps waren gestern. Egal ob "Skins", "The Inbetweeners" oder "Misfits" – die Jugendserien des britischen Senders Channel 4 nehmen Authentizität ernst, erzählen mit provokanter Offenheit aus der Teenager-Realität und definieren das Internet-Fernsehen von morgen.
Der Brite ist der hinterhältigere Amerikaner. Als solchen holt ihn sich die US-Fernsehlandschaft auch gerne als Verstärkung für Fieslinge wie Larry David (»Curb Your Enthusiasm«) zu sich, um sich das selbst verordnete Blatt vorm Mund wegzureißen und den inneren Schweinehund nach Luft schnappen zu lassen. Siehe Ricky Gervais, dessen böse Mockumentary-Serie »The Office« vom US-Fernsehsender NBC äußerst erfolgreich adaptiert wurde und der zuletzt als Moderator der Golden Globes sämtliche Star-Allüren der versammelten Hollywood-Prominenz herzhaft besudelte. Doch unmittelbar hinter Gervais hat sich bereits eine ganz neue und blutjunge Generation von Fernsehhelden versammelt, um ihren Eigensinn dem britischen Anstand und der US-amerikanischen Prüderie entgegen zu schleudern. Sie ficken, saufen, fluchen, tanzen, nehmen Drogen und proben den Aufstand. Sie durchleben – verdammt nochmal! – ihre ganz persönliche Pubertät und lassen uns zum Glück daran teilhaben.
Die ursprünglich in Bristol angesiedelte Sex, Drugs & Teenager-Serie »Skins«, in der eine Gruppe unterschiedlich problematisierter Jugendlicher durch ihren sehr hedonistischen Pubertäts-Alltag begleitet wird, ist seit Kurzem auch in den USA prominent via MTV auf Sendung. Allerdings in einer leicht abgeflachten, kanadischen Adaption, die einen braven Weichzeichner über das vorbildlich unanständige Original aus Großbritannien gelegt hat. Dennoch intervenierte das Parents Television Council (PTC), eine mächtige konservative Bürgerinitiative, gegen die kanadische Soft-Version. Deren moralisierende Vorwürfe der Drogenverherrlichung, Kinderpornografie und anderer Ungezogenheiten wurden von mehreren Hauptsponsoren so ernst genommen, dass sie der Serie prompt die Finanzierung entzogen. Vorerst zumindest, denn während sich MTV dank der Negativkampagne über steigende Zuschauerzahlen freuen kann, trudeln auch schnell neue Sponsorengelder ein.
Vom Bordstein zur Primetime
In Großbritannien hat sich in den letzten Jahren besonders ein Fernsehsender hervorgetan, wenn es darum ging, ein junges Publikum dort abzuholen, wo es steht: der hauptsächlich von Werbung finanzierte, staatlich regulierte Privatsender Channel 4. Auf seinem Sub-Sender E4 (Entertainment 4) wird seit fünf Jahren intermediale Pionier- und Jugendarbeit geleistet.
Die ersten Lorbeeren in Sachen jugendlicher Authentizität holte sich Channel 4 schon lange vor »Skins« ab, nämlich dort, wo sie verhältnismäßig am schwierigsten zu ergattern sind – in den Gossen Londons, zwischen roten Backsteinhinterhöfen und Betonschluchten, an den Mikrofonen einer aufblühenden Grime-Szene. Im November 2005 ging mit »Dubplate Drama« ein Format auf Sendung, das neben einer guten Auswahl von schauspielernden Grime-Artists vor allem den Zusehern die Gelegenheit bot, die Storyline zu beeinflussen, indem sie den Ausgang jeder Folge per SMS mitbestimmen konnten. Am Höhepunkt des Konflikts einer Episode konnten jeweils verschiedene Handlungsverläufe vom Publikum gewählt werden.
Die in Süd-London spielende Serie erzählte vom Schicksal der aufstrebenden Grime-Künstlerin Shystie, die sich zwischen DIY-Musikproduktion, MC-Battles, Piratenradio, männlichen Rivalen und Straßenkriminalität eine Karriere aufbaut. Drei Staffeln lang (2005-2009) konnte die Serie über E4 und MTV Base auch auf Mobiltelefonen oder tragbaren Sony Playstation-Konsolen verfolgt und unmittelbar mitgestaltet werden.
Für den damals 25-jährigen Regisseur Luke Hyams ging es neben der Interaktion mit Web-Fernsehen auch darum, positive Perspektiven mit der neuen Jugendkultur rückzukoppeln. »Black music and black culture is always shown as negative, we want to give it a positive twist«, argumentierte Shystie damals. So thematisierte die Serie auch Jugendschwangerschaft, Drogenmissbrauch, Gewalt und prekäre Lebensumstände. Die zusehenden Teenager sollten innerhalb dieses realitätsnahen Settings konstruktive Entscheidungsmöglichkeiten erfahren.
Partizipatives Unterhaltungs-TV
Parallel zu »Dubplate Drama« startete 2007 »Skins« und begeistert seither sein immer größer werdendes Publikum. 2008 folgte die aberwitzige Comedy-Serie »The Inbetweeners«, bei der vier heranwachsende Jungs als jungfräuliche Fettnäpfchen-Treter beim pubertären Scheitern belacht werden können. 2009 erweiterte E4 sein Programm um die Sketch-Show »School Of Comedy«, in der Halbwüchsige als verkleidete Erwachsene reüssieren, sowie das an ein älteres Teenager-Publikum gerichtete Science-Fiction-Drama »Misfits«.
Hier muss eine sehr heterogene Gruppe von straffällig gewordenen Jugendlichen gemeinsam Sozialdienst ableisten und wird – nach einem mysteriösen Blitzschlag plötzlich mit außergewöhnlichen Kräften ausgestattet – freundschaftlich zusammengeschweißt. Das Besondere an »Misfits« ist, dass es der Serie mittels explizitem Sprachwitz und schamlosen Bildern glaubwürdig gelingt, junge Erwachsene mit Hoffnungen und Ängsten aus ihrer eigenen Lebensumgebung zu konfrontieren und sie gleichzeitig mit blutrünstig-schwarzem Humor und spannenden Mystery-Anleihen zu unterhalten.
Obwohl diese Serien alle von unterschiedlichen Produktionsfirmen im Auftrag von E4 hergestellt wurden, verbindet sie eine Reihe von Gemeinsamkeiten, welche auch ihren Erfolg begründen. Anders als in den USA werden Jugendliche auch wirklich von Jugendlichen verkörpert, die nicht wie Nachwuchsmodels, sondern eher alltäglich mit markanten Gesichtern und menschlichen Makeln auftreten.
Ihre meist sehr ungeschönte Sprache unterstreicht den Anspruch auf Authentizität und schafft durch Akzente oder Dialekte noch spezifischere Identifikationsmöglichkeiten. Das Unterhaltungsniveau ist hoch, der Humor angenehm selbstzerstörerisch, die Drehbücher sind psychologisiert, jedoch nicht pathetisch; zunehmend werden auch Jugendliche selbst bei der Mitarbeit am Skript beteiligt. Ähnlich wie bei »Dubplate Drama«, wo Grime-Hype und Serie sich wechselseitig befruchteten, wird der Soundtrack auch hier identitätsstiftend eingesetzt.
Von 2007 bis 2010 war besonders eine Person bei Channel 4 für die neue Teen-Drama-Programmschiene verantwortlich: E4-Chefin Angela Jain. Sie hat »Skins«, »The Inbetweeners«, »Misfits« und »School Of Comedy« entwickeln lassen und zusätzlich die erfolgreiche US-Highschool-Serie »Glee« zu Channel 4 geholt. Jain und ihre Autoren waren es auch, die nach Ende der zweiten Staffel von »Skins« den mutigen Schritt wagten, die Serie neu zu besetzen, um den Draht zur jugendlichen Zielgruppe nicht zu verlieren. Unter ihrer Führung wurden Jugendliche als zu unterhaltende Zuseher wirklich ernst genommen, was dem Sender nachhaltig gute Quoten bescherte.
Auch nach Jains Abgang zu BBC3 gilt dieses Credo bei E4. Vor allem interaktive Fernsehangebote für Jugendliche werden zunehmend forciert. Das neueste E4-Projekt »Brink« (2011) gibt einen Vorgeschmack auf künftige Produktionsprozesse: Die Fans von »Skins« wurden dazu aufgefordert, gemeinsam mit der Produktionsfirma Company Pictures einen Kurzfilm für das Netz zu gestalten. Vier Jugendliche wurden für die Bereiche Regie, Buch, Kostüm und Set-Design ausgewählt und durften außerdem bei der dritten Staffel von »Skins« mitwirken. »Take part whenever you can« lautet das auf der Website verkündete Motto von E4 – und gilt gleichzeitig als genereller Auftrag für die Zukunft einer Fernsehbranche, die das Interesse junger, mit neuen Medien aufgewachsener Publikumsschichten nicht verlieren will.