Stephen Merritt begibt sich nach seinem 50. Geburtstag auf die Suche nach der verlorenen Zeit. Zurückgekommen ist er mit einem monumentalen Konzeptalbum über Hippies, Computer und Bettgeschichten.
Als der stets um laszive Melancholie bemühte Songwriter Stephen Merritt, Chef der Magnetic Fields, 2015 seinen 50. Geburtstag feierte, war dies für ihn nicht nur ein Grund, 50 Kerzen auszublasen und die depressive Halblebenszyklus-Krise mit dem Durchforsten alter Fotoalben zu füttern.
Stattdessen entschied er sich dazu, dieses halbe Jahrhundert Zeit aus verblichenen Fotoalben, ausgeleierten Platten und vergilbten Liebesbriefen zu seiner persönlichen Musik zu destillieren, zu den Songs seines Lebens. Stephen Merritt begab sich – wie sein literarisches Idol Marcel Proust – auf die Suche nach der verlorenen Zeit. Ein Lied für jedes Jahr sollte es werden, jedes für sich Zeugnis der persönlich vergangenen Zeit. Lyrisch schonungslos introspektiv, musikalisch dem jeweiligen Beat der Popgeschichte folgend. Entstanden ist aus diesem Konzept nun das »50 Song Memoir«. Ein Mammutwerk, das schon allein physisch imposant ist: eine schwere Box, bestehend aus fünf CDs bzw. LPs mit einem dicken, liebevoll gestalteten Foto- und Textbuch – seit den »69 Love Songs« gab es keinen so großzügigen Songkatalog der Magnetic Fields mehr.
Die Glut des Musikgeschichte-Ofens
Anders als bei den früheren Alben der Band sind die Texte auf »50 Song Memoir« allerdings nicht frei erfunden, sondern eine Mischung aus Autobiografie und Dokumentation. Zusätzlich zu seinem Gesang in allen Liedern spielte Stephen Merritt auch mehr als 100 Instrumente selbst ein, von Ukulele über Klavier und Drum Machine bis hin zu Abakus. Alle möglichen Artefakte aus einem halben Jahrhundert Klangforschung tummeln sich im Sound: Vintage-Computer, Magnettonbandgeräte, Synthesizer, Swarmatron und gar gänzlich neu erfundene Instrumente befeuern die Glut des Musikgeschichte-Ofens. Es ist ein Ofen, von dem man sich gerne wärmen lässt. Würde man jede einzelne Winternacht mit einem Song dieses Albums verbringen, ja, dann wäre der Winter rasch überstanden.
Wenn man »50 Song Memoir« mit einem Wort beschreiben müsste, dann wäre dies: monumental. Wer hat zuletzt von einem Album mit so vielen Tracks gehört? Was andere Bands ihr Lebenswerk nennen, schmeißt Stephen Merritt hier einfach so mal nebenbei aus dem Hemdärmel – und dies ist keineswegs negativ zu verstehen. Auch wenn bei Konzeptalben per se die latente Gefahr besteht, in den künstlerischen Overkill zu driften, haben die Magnetic Fields mit »50 Song Memoir« ein wunderbar hörbares Gesamtkunstwerk geschaffen. Songs wie »66 Wonder Where I’m From«, »The Blizzard Of 78«, »The 1989 Musical Marching Zoo« oder »Dreaming In Tetris« öffnen kaleidoskopartige Zeitkapseln im Ohr, die sich wie Überraschungseier entblößen.
Der einzige Kritikpunkt an »50 Song Memoir«: Es gibt fast schon zu viel zu entdecken. Das Album ist zu schwere Kost, um es an einem Abend durchzuhören. Besser ist es, die Lieder wie Desserts zu hören – und sich immer wieder mal eine der bittersüßen Songpralinen auf der Zunge zergehen zu lassen.
»50 Song Memoir« von den Magnetic Fields erscheint am 10. März 2017 bei Warner Music.