Thierry Groensteen stellt sich den Grenzen

„Was macht gute Comics aus? Künstlerische Bewertungskriterien“ – so wird der Vortrag von einem der ganz großen Comic-Theoretiker heißen. Am 12. April kommt er an die Kunstschule in Wien. Nurredin Nurbachsch hat ihn vorab per Mail befragt.

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Du wirst als Koryphäe und moderner Pionier der Neuformulierung wie Neuformung des Comics gefeiert. Vor allem durch deine Arbeit als Chefredakteur der französischen „Les Cahiers de la Bande dessinée“-Reihe hast du Bekanntheit erlangt. Wo liegt deine Erwartungshaltung, dass diese Arbeiten in das allgemeine Verständnis der Sichtweise des Comics und in das allgemeine Kunstverständnis einfließt?

Gut. Seitdem Rodolphe Töpffer um 1830 seine ersten Graphic Novels veröffentlicht hat, ist einiges geschehen. Der Comic hat die Geburt des Kinos, des Fernsehens, des Hologramms, des Videos oder digitalisierter Bilder gesehen. Ist es nicht erstaunlich, dass nach all diesen Innovationen das Medium Comic noch immer so beliebt, dynamisch und relevant ist? Tief in seinem Grundprinzip hat die Kunst des Comic eine einleuchtende Einfachheit. Und gleichzeitig erfordert sie eine aktive Teilnahme des Lesers, ist offen für die große Vielfalt der künstlerischen Strategien. Dieses ist es, was mich daran fasziniert. Wie sich der Blickwinkel und die Erzählweise miteinander ergänzen, wie eine Folge von statischen Bildern in einer Reihenfolge beginnen, Sinn zu ergeben.

Neben der Beschäftigung mit der Kunstform bist du ebenso als Kritiker der Wertigkeit des Comics berüchtigt. Ist die kritische Auseinandersetzung für unsere Auffassung des Comics notwendig?

Ich gebe da die exakt selbe Antwort wie Douglas Wolk in seinem “Reading Comics” Essay, weil es genau so stimmt: “Kritische Aufarbeitung und Analyse wie starke Standpunkte sind eine wichtige Antwort jeder Kunst. Sie sind ein Teil dessen, das es wachsen und ändern lässt und stellen eine Bindung mit der Leserschaft her. Außerdem möchte ich mehr gute denn schlechte Comics sehen.

Deine Arbeit „Das System des Comics“ wird als Fortführung und Erweiterung der grundlegenden Arbeiten von Will Eisner und Scott McCloud oder auch Goulart, Seldes, Sheridan, R.C. Harvey gesehen. Zugleich ist das der meist diskutierte Punkt. Nämlich dass deine Arbeit primär die Theorien von Eisner und McCloud für europäische Idiomen adaptiert, sich dabei eines stark akademischen Wortschatzes bedient. Wo siehst du den Unterschied zwischen deiner Arbeit und der der anderen Forscher, vor allem Eisner und McCloud?

Das klingt mehr nach einer Anklage als einer Frage! Und ich frage mich, auf wessen Meinung du dich beziehst. Wenn du mein Buch „System of Comics“ gelesen hast, wirst du bemerkt haben, dass ich nicht die Arbeiten der zuvor genannten Künstler und Forscher diskutiere. Aber dafür die Arbeiten französischer Künstler, die leider nicht ins Englische übersetzt worden sind. Ich benutze auch viele Arbeiten, die außerhalb des Kontextes des Comic geschrieben wurden. Beispielsweise im Raum der Fotografie, der Malerei oder des Kinos.

Mit Scott McCloud hatte ich vor zwei Jahren eine öffentliche Diskusssion in Angoulême wo er mir zustimmte, dass der Hauptunterschied zwischen unseren Theorien darin liegt, dass er nie eine Seite des Comics als Einheit sieht. Er ist nur an der Wechselwirkung zwischen den Rahmenbedingungen interessiert. Als ob es keinen Unterschied machen würde, wo diese positioniert sind und was umher platziert ist. Während ich ausführlich die Frage des Seitenlayouts bespreche. Wie die räumliche Anordnung, Aufgliederung und der Freiraum in ständiger Interaktion mit der Erzählung stehen.

Du hast einmal den Ausspruch getätigt, dass es unmöglich ist, den Comic zu definieren. Darf man so frech sein und fragen, was du genau erforscht und gibt es eine ultimative, abschließende Definition?

Ich schreibe zur Zeit an einem langen Essay über diese Fragestellung der Definition des Comic. Und der Erklärung, warum es immer problematisch bleiben wird. Damit kann ich diese komplizierte Frage nicht in zwei Sätzen zusammenfassen, verzeihe mir. Aber wenn du nach einer einfachen Definition suchst, die auf einer Mehrzahl der Comics zutrifft, dann schlage ich die britische Forscherin Ann Miller vor: „Als visuelle Erzählkunst streicht ´Bande Dessinée´ die Bedeutung der Bilder heraus, die in einem aufeinanderfolgenden Kontext stehen. Welche in einem weiteren Verhältnis mit der Räumlichkeit stehen – mit oder ohne Text.“ (Reading bande dessinée, Intellect: 2007, Seite 75).

In letzter Zeit konnte der Comic sein Image der reinen Unterhaltung für Kinder abstreifen und die Brücke zum ernsthaften Anspruch zu schlagen. Das Modewort dieser Entwicklung lautet „Graphic Novel“. Wie ist deine Sichtweise über diesen Paradigmenwechsel und der offensichtlichen Notwendigkeit einer Umbenennung des Genres Comic?

Die Bezeichnung der „Graphic Novel“ ist sogar noch schwerer zu definieren und kann zu allerhand Verwirrung führen. Aber sie hat sich vom strategischen Gesichtspunkt als sehr sinnvoll erwiesen. Sie hat dem Comic die verführerische Türe in die literarische Umgebung geöffnet. Und der internationale Ruhm von Künstlern wie Art Spiegelman, Chris Ware, Alan Moore, Joe Sacco oder Marjane Satrapi hat viele Leute überzeugt – einschließlich Buchhändlern, Bibliothekaren und Journalisten – dass Comic ein erwachsenes und relevantes Medium sein kann. Perfekt in der Lage, die Fragen der Menschheit und deren gegenwärtigen Zustand zu beschreiben und besprechen. Selbstverständlich führt diese Umbenennung zu dem logischen Schluss, dass alles, was nicht dem Standard der Graphic Novel entspricht, nur zweitklassiger Comic ist. Was absurd ist.

Thierry Groensteen ist am 12. April zu Gast in der Kunstschule Wien.

Fragen: Nurredin Nurbachsch

Übersetzung des Interviews: Shorty

Thierry Groensteen

12. April 2010, 19 Uhr

 

Kunstschule.at, Lazarettgasse 27, 1090 Wien, Saal 18

Vortrag auf Englisch, Eintritt frei

Eine Kooperation von kunstschule.at mit dem französischen Kulturinstitut in Wien.

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