In ihrem neuen Dokumentarfilm taucht das italienisch-österreichische Regie-Duo in die Wiener Unterwelt der 1960er Jahre ab und entfaltet eine fesselnde Geschichte aus Alltagsbrutalität und Justizmissbrauch.
»Die Unterwelt in Wien hat es nie gegeben.« – Es sind starke Worte, mit denen Alois Schmutzer den neuen Dokumentarfilm von Tizza Covi und Rainer Frimmel einleitet. Notorisch bekannt für seine illegalen Wettspiele im Meidling der ’60er, Revierkämpfe und Auseinandersetzungen mit der Polizei rekonstruieren Schmutzer und sein Freund Kurt Girk die Jahre, in denen Gewalt, Nazivergangenheit und korrupte Legislatur an der Tagesordnung standen. Jahre, in denen Gesetzgeber und Medien diese Figuren zu Bösewichten aufbauschten, da sie nicht den Regeln folgten. Kumulieren wird ihre Geschichte in jenem Gefängnisaufenthalt, zu dem sie auf eine Dauer von jeweils zehn und acht Jahren nach einem Showprozess verurteilt wurden. Die Anklage lautete Postüberfall. Beweise, dass die beiden involviert waren, gab es nie.
Nach ihren vorangegangenen Filmen »Das ist alles«, der den Alltag der deutschstämmigen, russischen und armenischen BewohnerInnen in einem Dorf nahe Kaliningrad dokumentiert und »Babooska«, in dem sie die Zirkusartistin eines Wanderzirkus‘ in Italien begleiten, wenden sich Covi und Frimmel nun heimischen Schauplätzen zu. Die Wiener Unterwelt entfaltet sich in ihren nüchtern schwarz-weiß gehaltenen Bildern mit langen Erzählungen seitens Girks, Schmutzers, ihren ehemaligen Weggefährten, sowie anhand von Blicken ins ORF-Archiv und in private Fotoalben. »Aufzeichnungen aus der Unterwelt« ist ein packendes und gut organisiertes Beispiel von Oral History. Der Film schließt jene historische Lücken, von denen man als ZuschauerIn oft nicht erahnt, dass sie überhaupt existieren. The Gap traf die beiden Regisseure nach der Weltpremiere auf der 70. Berlinale zum Gespräch.
Das ist bereits euer dritter Dokumentarfilm. Was für Figuren sucht ihr euch für eure Filme?
Covi: Das sind eigentlich immer Außenseiter oder Minderheiten, die uns interessieren. Oder auch Leute, über die viel geschrieben wird, viel behauptet wird, ohne dass man sie überhaupt kennt. Das trifft auf den Zirkus zu, das trifft auf Russen zu, die in einem früheren deutschen Gebiet wohnen, und das trifft jetzt auch wieder zu. Welche Vorurteile stellt man wem gegenüber und warum, und wie sind die wirklich? Das ist überhaupt eine der größten Interessen in unserem Leben.
Ihr inszeniert diesen Film mit Oral History, eine jüngere historische Entwicklung entgegen der allgegenwärtigen Elitengeschichte. Sie erlaubt gemeinhin jene Leute, die sich eben nicht verschriftlichen konnten, zu porträtieren. Wollt ihr hier eine Gegengeschichte schreiben?
Frimmel: Wir wollen einfach wirklich unsere Geschichte schreiben, wie wir sie sehen und wie wir sie erleben. Da ist uns durchaus bewusst, dass durch Oral History ein großer Schatz erhalten werden kann, der verloren geht. Uns ist bewusst, dass sich immer die Frage der Wahrheit stellt, weil Vergangenes immer anders erlebt wird aus jedem Blickwinkel. Jeder hat seine eigene Geschichte. Das war aber auch die Faszination für uns, dass man vieles einfach anders sehen kann.
Covi: Man kann Leuten, die sonst nicht zu Wort kommen, ein Forum bieten. Das ist schon richtig. Man möchte es nicht nur von den Medien und den Journalisten wissen, sondern eben aus einem anderen Blickwinkel.
Wie habt ihr eure Protagonisten gefunden?
Covi: Auf den Kurti sind wir gestoßen, weil wir sehr gerne zu diesen Wienerlied Abenden gegangen sind. Der Alois Schmutzer hingegen, das kommt daher, dass der Rainer schon immer ein Faible gehabt hat für die Wiener Unterwelt. Die Schmutzer Buben wurden in Wien von den Medien immer sehr aufgebauscht als die großen Bösen, und das hat ihn sehr interessiert. Dass die zwei beste Freunde sind und sich gut kennen, haben wir erst viel später erfahren.
Frimmel: Über den Alois ist ja einiges geschrieben worden. Es war auch oft zu lesen, dass er diesen Postüberfall ausgeführt hat, was ja eine völlige Lüge ist. Das ist dann der Unterschied zur geschriebenen Geschichte, denn das steht dann wirklich in Büchern. Das bringt man auch nicht mehr weg. Wenn man die Leute dann selber erzählen lässt, kann man das von einer anderen Seite sehen. Und den Alois, den habe ich dann wirklich sehr lange gesucht, weil er sehr zurückgezogen lebt. Dann haben wir eine Freundschaft aufgebaut, die es möglich machte, diesen Film zu drehen.
Ihr lasst den beiden sehr viel Freiraum, wenn sie erzählen. Wollt ihr es den ZuschauerInnen überlassen, sich selbst ein Bild zu machen?
Frimmel: Wir wollten sie einfach reden lassen, wirklich ihre Sicht hören, wie sie das alles erlebt haben. Kurt war sehr lange Zeit im Gefängnis. Das ist eine Zeit, über die man natürlich auch anders berichten könnte. Aber der Kurt ist einfach ein unglaublich positiver Mensch und besitzt viel Humor. Wir können von diesen Menschen lernen, wie man wirklich schwierige Situationen mit solch einem Humor verarbeiten kann.
Covi: Es schaut natürlich so einfach aus, aber dem ganzen sind ja jahrelange Recherchen vorausgegangen. Der Rainer hat von jedem Protagonisten sicher mindestens 15 Tonbandaufnahmen gemacht. Das heißt die haben ein Leben, da könnte man einen Zehnstünder draus machen. Wir haben uns mehr auf diese in ihrem Leben wirklich kleinen Geschichte konzentriert, diesen Postraub, wo sie nicht dabei waren. Es gäbe aber noch sehr viele andere Geschichten.
Frimmel: Ich finde es natürlich schön, wenn man das Gefühl hat, nicht in einer Interviewsituation zu sitzen, sondern mit ihnen am Tisch. Das ist uns wichtig. Das funktioniert aber nur, wenn man ein Vertrauen aufbauen kann.
Die Erzählungen und Anzahl an ZeitzeugInnen sind sehr umfangreich. Wie habt ihr euren Fokus bestimmt?
Covi: Es hat sich uns da ein Universum aufgetan, das so spannend war, dass die erste Schnittfassung fünf Stunden dauerte. Das Gefängnis hat eine ganz große Rolle gespielt. Aber wir haben gemerkt, unsere zwei Hauptprotagonisten verlieren wir total, desto mehr Leute dazukommen. Das war dann auch die Entscheidung: Nein, wir konzentrieren uns auf diese Geschichte und geben die anderen Protagonisten weg. Vielleicht sammeln wir das weiter und können irgendwann einen zweiten Film nur über das Gefängnis machen.
Frimmel: Wir haben Geschichten gefunden, die wirklich unglaublich sind. Aber im Schnitt hat das dann alles nicht mehr Platz gehabt.
Gab es irgendwelche Widerstände, diesen Prozess rund um den Postraub noch einmal aufzurollen?
Frimmel: Wir wollten die Gerichtsakte haben, aber die haben wir nicht bekommen. Ich glaube, der ganze Prozess nagt schon noch an der Justiz, weil er damals einfach sehr prominent war.
Es kommt sehr viel Nachkriegsösterreich durch. Neben Justizmissbrauch auch Nazivergangenheit oder Gewalt. Ist das so ein bisschen die zweite Geschichte in eurem Film?
Frimmel: Absolut. Das geht über die Erzählungen hinaus und ist eine zweite Ebene über diese Zeit. Beispielsweise die Gewalt, die geherrscht hat.
Covi: Oder auch ihre Kindheit. Das kann man sich in unserer Zeit auch gar nicht mehr vorstellen mit welcher legitimierten Gewalt man aufgewachsen ist. Staatlich legitimierter Gewalt.
Frimmel: Es war uns ein Anliegen, über Wien, über diese Zeit, über die es vielleicht noch nicht so viel gibt, ein Bild zu erzeugen.
Ihr hattet mit dem Film auf der Berlinale Weltpremiere. Er ist streckenweise ein sehr österreichischer Film, wie ist er beim deutschen Publikum angekommen?
Covi: Sie haben das sehr gut angenommen und den Wiener Schmäh auch verstanden. Was uns auch wichtig war, unser Hauptprotagonist Alois Schmutzer hat den Film zum ersten Mal gesehen. Er war sehr gerührt. Das war natürlich unsere größte Sorge. Man muss den Leuten, die man quasi der Öffentlichkeit preisgibt, auch gerecht werden.
Frimmel: Wir wollen den Leuten immer irgendetwas zurückgeben. Im Grunde war das genau der Grund warum wir so einen Film machen. Dass der Alois danach auf die Bühne kommt und 500 Leute stehen auf und applaudieren, genau das wollen wir den Leuten zurückgeben. Die Möglichkeit, einmal im Leben so einen Moment zu haben.
Welche Lektion, hofft ihr, nehmen die Leute aus dem Film mit?
Covi: Sich selbst eine Meinung zu machen. Nicht das, was sie aus den Medien kennen, und auch nicht das, was von der Polizei oder den Strolchen kommt. Auch dass es einfach ist, Leute vorzuverurteilen.
Frimmel: Man erfährt wirklich sehr viel über Gerechtigkeit. Das sind sehr wichtige Themen. Gerechtigkeit, Schuld, Sühne, Gewalt, Polizeigewalt, Justizwillkür – so schnell kann man gar nicht schauen und das kann einen alles selber betreffen.
Was für Pläne habt ihr noch mit dem Film?
Covi: Wir haben eine Einladung von Cinema Du Reel bekommen für ein Special Screening. Wir erwarten wir uns jetzt nicht den großen internationalen Ruhm auf diesen Film, aber wir freuen uns über jedes Festival, das ihn zeigt. Wir würden ihn auch gerne in Wien auf der Viennale präsentieren. Da wird es noch Gespräche geben.
Frimmel: Wir würden uns natürlich auch freuen, wenn wir ihn vielleicht in Ottakring zeigen könnten. Oder in Meidling, wo die Leute die Figuren auch wirklich persönlich noch kennen. Weil ich glaube, das ist dann wieder eine ganz eigene Erfahrung.
»Aufzeichnungen aus der Unterwelt« feierte auf der Berlinale 2020 in der Sektion Panorama Weltpremiere.