Zum runden Jubiläum haben wir Kulturschaffende und Mitglieder des Festivalteams um ihre ganz besonderen Viennale-Erinnerungen gebeten. Unter anderem mit Yasmo, Siegfried Fruhauf, Doris Knecht und Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi in einer Doppelrolle.
Eva Sangiorgi — als Branchengast der Viennale (© Viennale / Robert Newald – Eva Sangiorgi im Bild mit James Benning, 2012)
Eine schöne Erinnerung aus der Zeit, als ich die Viennale als Zuschauerin besuchte, ist die Begegnung mit Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor. Die Vorführung von »Leviathan« im Gartenbaukino war sensationell. Das war 2012, und der Film war talk of the town auf allen Festivals und bei allen Veranstaltungen, die im Zusammenhang mit dem Film standen. Der Film regte an, die Art und Weise infrage zu stellen, wie wir die Welt beobachten und Erfahrungen wahrnehmen. Nach der Vorführung blieb ich mit den meisten Zuschauer*innen im Kinosaal und wir führten ein interessantes Gespräch mit den Filmemacher*innen. Und wie das bei der Viennale so ist, ging das Erlebnis weiter, und ich traf die beiden bald darauf wieder und lernte sie persönlich kennen, sodass wir das Gespräch außerhalb des Saals, in der Hotellobby und in der Festivalzentrale fortsetzten. Ich bin heute noch dankbar für diese Begegnung. Ich habe daraufhin beschlossen, ihren Film und die politischen und philosophischen Implikationen ihrer Herangehensweise an das Kino zum Thema meiner Masterarbeit in Kunstgeschichte zu machen.
Yasmo — Musikerin und Autorin (© Carina Antl)
Bei der Viennale gibt es eigentlich so viele Momente, an die ich mit Freude denke! Als ich noch zur Schule ging, ist einer meiner besten Freunde Teil der Standard-Jury gewesen und wir waren alle voll neidisch – als ich dann auch Jurorin geworden bin, hat es sich nach full circle angefühlt, haha. Ich glaub, einer meiner Lieblingsmomente war aber der letzte Abend der Viennale 2020 – es lag schon in der Luft, dass wieder ein Lockdown kommen würde, und ich war froh, dass ich das ganze Festival mitnehmen und sehr viele Filme sehen konnte. Und dieser Abschlussabend war – ich glaube, bei allen – vom Bauchgefühl so ein »Okay, ein letztes Mal Kultur für heuer«. Es war eine Punktlandung.
Géza Terner — Schauspieler, Moderator und Viennale-Saalregisseur (© Viennale / Alexi Pelekanos)
Als Saalregisseur im Gartenbaukino habe ich über die Jahre mit sehr vielen Filmemacher*innen und Schauspieler*innen zu tun gehabt, darunter natürlich auch bekannte Stars. Das Besondere an der Viennale ist für mich, dass die familiäre Atmosphäre des Festivals sich auf praktisch alle überträgt, auch auf die großen Namen. Und so verhalten sich viele dann äußerst entspannt und man erlebt kleine, aber feine unterhaltsame Momente abseits des Scheinwerferlichts. Als Michael Caine zu Besuch bei der Viennale war, stand er mit seiner Frau und mir neben der Bühne, hinter dem Vorhang. Wir plauderten über Wien, als er plötzlich innehielt und »Oh, Christ!« ausrief. Ich fragte mich, ob ich irgendeinen Riesenblödsinn erzählt hatte – doch er griff sich auf den Ärmel seines Anzugs, sagte, dass er diesen Anzug heute erst in Wien gekauft habe, riss das übersehene Preisschild herunter und ging strahlend auf die Bühne ...
Siegfried Fruhauf — Filmemacher (© Viennale / Alexi Pelekanos)
Mein erster Besuch bei der Viennale als Filmgast war 2001. Der nationale, unbedeutende Filmgast aus der Provinz wurde naturgemäß nicht sonderlich mit Aufmerksamkeit bedacht. Ich hatte auch nicht mehr erwartet und war nur beeindruckt vom Glanz des Festivals. Das Flair des internationalen Kinos war berauschend. Nicht nur das hat mich beeindruckt. Umso bezaubernder, dass ich mit einer der damaligen Gästebetreuerinnen heute drei Kinder habe. So habe ich im und mit dem Kino meine große Liebe gefunden. Als Jahre später die Viennale meine gesammelten Werke in einem Special zeigte, kam auch die Omama von meiner lieben Anna angereist. Sie war damals 85 Jahre alt und eine interessierte Frau. So scheute sie keine Sekunde davor zurück, sich der vollen Ladung Experimentalfilm auszusetzen. Am Ende meinte sie nur: Man würde es den Filmen nicht unbedingt anmerken, dass ich eigentlich eh ein sympathischer Mensch sei.
Alexandra Seitz — Viennale-Textchefin und Redaktion Pocketguide (© Viennale)
Für mich lebt die Viennale vor allem von den unerwarteten Momenten, jenen, die überraschend daherkommen und die dafür umso stärker wirken und nachhallen. Anlässlich einer Dokumentation über Charles Bukowski fand 2003 in der damals im Dachgeschoß der Urania angesiedelten Festivalzentrale eine etwas andere Lesung statt. Hermes Phettberg (Bild), legendärer Aktionskünstler, Schriftsteller und Talkshow-Host, las – nach eigenen Angaben: schlecht – aus den Werken des anderen »dirty old man«, eben Bukowski. Der Raum war voll, das Publikum begeistert, die Stimmung näherte sich einem Höhepunkt. Da hielt Phettberg inne, kündigte das baldige Ende der Lesung an und richtete seinen großen Wunsch an das enthusiasmierte Publikum: bitte keinen Applaus! Ich erinnere mich sehr gut daran, wie unglaublich schwierig es war, nach dieser fulminanten Veranstaltung still sein zu sollen, nicht klatschen zu dürfen, nicht Bravo zu rufen und natürlich erst recht nicht zu toben – es grenzte an, nein, es war eine sadomasochistische Erfahrung. Und als solche sehr wahrscheinlich durchaus im Sinne des großen Vorlesers Phettberg. Jedenfalls ein nachhaltiger, starker Moment – und das ganz ohne Film …
Doris Knecht — Schriftstellerin und Kolumnistin (© Heribert Corn)
Mein beste Viennale-Geschichte ist auch meine peinlichste. Sie spielt im Jahr 2016, als die Viennale mit »Manchester by the Sea« eröffnete. Ich war eingeladen und bekam aus irgendeinem Grund fantastische Plätze zugeteilt, Reihe 16 Mitte, direkt hinter Regisseur Kenneth Lonergan. Ich war so begeistert und aufgeregt, dass ich vor dem Film dreimal auf die Toilette musste und einmal während des Films. Meine Sitznachbar*innen haben mich geliebt, Kenneth Lonergan wohl auch. Ich liebe den Film, immer noch, und jede Viennale-Eröffnung, die sich für mich ausgeht, aber sitzen tu ich lieber am Rand.
Anna Katharina Laggner — Radiomacherin, Autorin und ehemalige Viennale-Mitarbeiterin (© Viennale / Ruth Ehrmann)
Bei der Viennale erkannte man vor 25 Jahren schnell, dass sich meine Fähigkeiten eher in der Gästebetreuung als hinter dem Steuer eines, wie mir schien, selbstfahrenden Autos (es war nur Automatik) entfalten. Ich lernte von großen Diven. Fay Wray habe ich in handsamer Erinnerung, sie war durch die Hand von King Kong gegangen und auf ewig von jeglicher Überheblichkeit befreit. Anders verhielt es sich mit Lauren Bacall, die Fotos – wie einst Marilyn Monroe – mit Nagellack durchstrich und zerriss, jedoch bei unserer Verabschiedung eine ausgedrückte Tube Hautcreme aus ihrer Handtasche kramte und mir schenkte. Diese ausgedrückte Tube trug ich dann jahrelang in meiner Handtasche. Jane Birkin lächelte immer, schien aber in anderen Sphären zu Hause zu sein als in jenen eines durchchoreografierten Festivalbesuchs. Sie wollte alles richtig machen, notierte sich Namen, Orte und Zeiten. Auch auf der Bühne des Volkstheaters, wo sie ein Konzert gab, mussten große Zettel aufgeklebt sein, etwa mit den Namen des Gästeteams. Sie bedankte sich bei allen. Dass in ihrem System wenig Platz für Unvorhergesehenes war, zeigte sich, als ich – spontan von Hans Hurch dazu aufgefordert – am Ende des Konzerts auf die Bühne treten und ihr einen Blumenstrauß überreichen musste. Sie erschrak sichtlich entsetzt. Wahrscheinlich ist das Blumenüberreichen keine Begabung von mir. Meine Fähigkeiten liegen im Jonglieren mit Worten. Viel länger als ich Gästebetreuerin war, schreibe ich nun, auch über Film. Und schöpfe als Schreibende aus dem reichen und immer wieder frisch bestückten Fundus meiner Viennale-Eindrücke.
Eva Sangiorgi — als Direktorin der Viennale (© Viennale / Alexander Tuma)
Als Direktorin der Viennale habe ich eine Menge Geschichten und gute Erinnerungen gesammelt. Ich denke da z. B. an den Abschlussabend der Viennale im vergangenen Jahr. Der Film, den ich für die Abschlussgala gewählt habe, war der großartige »The Worst Person in the World« von Joachim Trier. Renate Reinsve, die Hauptdarstellerin, war unser Gast und im Gartenbaukino mit dabei auf der Bühne. Sie trug einen umwerfenden goldenen Dior-Anzug und Schuhe mit unfassbar hohen Absätzen, sodass nachher ein paar Fotos kursierten, bei denen ich mich auf die Zehenspitzen stellte, um den »Höhenunterschied« auszugleichen, da ich zwei bequeme, niedrige Stiefeletten anhatte. Die Energie des Abends war elektrisierend: Das Festival war gut gelaufen – so viele Filme, so viele Gäste und so viele Menschen. Der Fluch des Virus schien abgewendet zu sein. Und der Film, intelligent, aber auch witzig, war ein schönes Abschlussgeschenk. Renate war zu Beginn der beiden Vorführungen, an denen sie teilnahm, großzügig und spontan. Dann teilte sie uns mit, dass sie sich mit einer Freundin aus Wien zum Abendessen treffen müsse, bevor sie zu Bett gehe. Sie hatte für den nächsten Morgen einen Termin für die dritte Dosis des Impfstoffs in Wien vereinbart, weil sie von hier aus in den Urlaub fahren wollte. Ich weiß nicht, ob ihre Energie uns ansteckte oder die Viennale sie, oder ob ein Kreislauf des Glücks entstand, aber am Ende trafen wir uns um 4 Uhr morgens auf der Tanzfläche. Ich hatte immer noch meine Schuhe an, sie war immer noch wunderschön und tanzte sogar in Hotelschuhen.
Die 60. Ausgabe der Viennale findet noch bis 1. November in Wien statt. Die Viennale-Retrospektive im Filmmuseum läuft bis 23. November. Sie ist dem japanischen Filmemacher Yoshida Kijū gewidmet.