Wenn Amy Webb im März 2025 in Austin auf die Bühne der SXSW tritt, hat das etwas von einem wiederkehrenden Ritual: Menschen stehen stundenlang an, um ihre jährliche »Emerging Tech Trends«-Session zu sehen, die Halle ist voll, der Livestream läuft parallel für alle, die keinen Platz mehr bekommen. Ihr Vortrag gehört seit Jahren zu den Markenzeichen der Konferenz.

Webb ist quantitative Futurologin, Gründerin und CEO der Future Today Strategy Group (FTSG) und Professorin für Strategic Foresight an der NYU Stern School of Business. Seit beinahe zwei Jahrzehnten nutzt sie die SXSW als Bühne, um ihren jährlichen Tech-Trends-Report zu launchen – 2025 bereits in der 18. Ausgabe, rund 1.000 Seiten stark, gegliedert in 15 Teilberichte.
Das Motto 2025 lautet »Beyond«. In ihrem einleitenden Brief schreibt Webb, die Menschheit habe im vergangenen Jahr »mehrere Punkte ohne Rückkehr« überschritten – nicht langsam, sondern in plötzlichen Sprüngen, die die langfristige Entwicklung der Zivilisation verändert hätten. Man sei »über mentale Modelle, biologische Grenzen und soziale Normen hinaus« gegangen, hinein in einen Raum, den sie als »Beyond« beschreibt. Herzstück dieser Verschiebung ist für sie ein Konzept, das sie »Living Intelligence« nennt.
»Living Intelligence«: Wenn Systeme wahrnehmen, lernen, reagieren – jenseits einzelner Technologien
Auf den ersten Blick bleibt Webb bei einem Motiv, das sie bereits 2024 stark gemacht hat: der Konvergenz von künstlicher Intelligenz, Sensorik und Biotechnologie. 2025 zieht sie den Faden weiter und prägt dafür den Begriff »Living Intelligence«.
In der Executive Summary des Reports beschreibt FTSG »Living Intelligence« als Systeme, die KI, fortgeschrittene Sensoren und Biotech so verbinden, dass neue, stark rückgekoppelte Kreisläufe zwischen digitaler und physischer Welt entstehen: Systeme, die ihre Umwelt wahrnehmen, daraus lernen, sich anpassen und weiterentwickeln. Beispiele, die im Bericht angeführt werden, sind etwa:
Gesundheit: KI-gestützte Diagnostik kombiniert mit kontinuierlichem biometrischem Monitoring, um Therapien in Echtzeit anzupassen.
Industrie: Produktionsanlagen, die mittels Sensorik laufend Daten über Abläufe sammeln und ihre Prozesse selbstständig optimieren.
Handel: Verkaufsumgebungen, die auf Körperdaten, Bewegung und Verhalten von Kund*innen reagieren.
In Austin fasst Webb diese Entwicklung als »Great Tech Convergence«: Nicht eine einzelne Technologie sei ausschlaggebend, sondern ihr Zusammenspiel. Genau das verändere, wie Organisationen handeln, Risiken einschätzen und überhaupt noch Schritt halten können.
Zehn Verdichtungen: Von Living Intelligence bis Cislunar-Ökonomie
Der 2025 Tech Trends Report destilliert diese Lage in zehn zentrale »Key Takeaways«, die Webb in ihrer SXSW-Session aufspannt. Hier einige davon:
Living Intelligence: Die bereits erwähnte Konvergenz von KI, Sensorik und Biotech – als Motor für neue Systeme, die wahrnehmen, lernen und Entscheidungen treffen können.
Action Models statt nur Language Models: KI verschiebt sich von reiner Textverarbeitung zu Modellen, die anhand von Verhaltensdaten lernen, was zu tun ist – nicht nur, was zu sagen ist. Im Report ist von »Large Action Models« und »Personal Large Action Models« die Rede, die komplexe Aufgaben in Handlungsschritte zerlegen und zunehmend personalisiert agieren.
Roboter jenseits der Fabrikhalle: Mit besserer Sensorik und neuen Steuerungsmodellen verlassen Roboter klassische Industrie-Settings und tauchen verstärkt in Dienstleistung, Logistik und Pflege auf.
Agentische KI: Systeme, die eigene Zwischenziele setzen und Entscheidungen treffen können, anstatt nur auf menschliche Prompts zu reagieren.
Metamaterialien: Künstlich erzeugte Materialien, die physikalische Eigenschaften neu definieren – etwa für Energie, Bauwesen oder Kommunikation.
Klimainnovation, Kernenergie, Quantum, Cislunar: Der Report beschreibt, wie Klimakrise, Energiehunger und der Wettlauf um Rechenkapazitäten Investitionen in kleine modulare Reaktoren, neue Formen von Nukleartechnologie und Quantum-Computing antreiben – und wie parallel eine entstehende Ökonomie im Raum zwischen Erde und Mond (»cislunar space«) skizziert wird.
Webb betont: Entscheidend sei nicht, ob einzelne Technologien »hip« seien, sondern, wie sie sich gegenseitig verstärken und welche Machtverschiebungen sich daraus ergeben.
»Beyond the Rubicon«: Fünf Jahre, die den Rahmen setzen
In ihrem Vorwort wählt Webb eine auffallend klare Sprache. Sie schreibt, die Menschheit habe im vergangenen Jahr mehrere Rubikon-Momente überschritten. Die Entscheidungen der nächsten fünf Jahre würden »das langfristige Schicksal der menschlichen Zivilisation« mitbestimmen – nicht als rhetorische Übertreibung, sondern als Schlussfolgerung aus den vorliegenden Daten. Die Diagnose in Austin klingt entsprechend nüchtern:
Viele Organisationen fokussieren sich eng auf KI und verpassen, dass Sensorik und Biotech deren Wirkung massiv verstärken. Wer nur auf einzelne Tools reagiert, verliert den Blick für das, was Webb als »convergence« beschreibt – Systeme, die gleichzeitig in Informatik, Biologie und Materialwissenschaften eingreifen.
Der Abstand zwischen »early movers« und Nachzüglern wachse nicht mehr in Jahrzehnten, sondern in Monaten: Datenvorsprung, Infrastrukturen und organisationales Lernen seien sehr schwer wieder einzuholen, sobald sich Living-Intelligence-Systeme etabliert hätten.
Anders formuliert: Für Webb geht es nicht mehr nur um »digitale Transformation«, sondern um einen Übergang, in dem definierter werden muss, was als menschliche Entscheidung gilt, wenn lernende Systeme in Gesundheitswesen, Finanzsektor, Verwaltung und Sicherheitsbereichen mitentscheiden.
SXSW als Foresight-Schule, nicht nur als Bühne
2025 ist Webb in Austin nicht nur mit ihrer großen Trends-Session präsent. SXSW kündigt zusätzlich eine mehrteilige »Foresight Master Class« an, in der das Future Today Strategy Group-Team seine Methodik als Fortbildung anbietet – von Horizon Scanning bis Szenarioarbeit. Ziel ist, dass Teilnehmer*innen nach vier Tagen die Grundlagen strategischer Vorausschau anwenden können.
Was bleibt?
Webbs zentrale Botschaft 2025 lässt sich auf eine einfache Spannung herunterbrechen: Einerseits zeichnet sie eine Welt, in der Living Intelligence, Action Models, Metamaterialien und Cislunar-Ökonomien reale strategische Parameter werden.
Andererseits insistiert sie darauf, dass es nicht darum geht, »die Zukunft richtig vorherzusagen«, sondern Entscheidungen im Jetzt so zu treffen, dass unterschiedliche Zukünfte offenbleiben.