Was ist Tokenismus? – Zwischen Repräsentation und Ausbeutung

Große Unternehmen schmücken sich mit der Pride-Flagge, Werbespots zeigen Menschen unterschiedlicher Herkunft, häufig deklariertes Ziel: »Diversität«. Und dennoch ist unsere Kultur- und Medienlandschaft alles andere als vielfältig. Wie kommt es dazu? Und was hat das mit Tokenismus zu tun?

© Randy Fath / Unsplash

Vielleicht erinnern sich ein paar Leser*innen an eine Szene aus der britischen Serie »Fleabag«: Ein Preis wird für die »Best Woman in Business« verliehen, Sektempfang und Lobesreden inklusive. Protagonistin Fleabag hat den ziemlich ausdruckslos designten Pokal verschusselt und muss schnell etwas anderes zur Belohnung überreichen. Doch das Einzige, was sie so spontan finden kann, ist die goldene Büste einer nackten Frau ohne Kopf. Wie peinlich … Belinda, die Gewinnerin dieser Ehrung, nimmt ihren Preis überraschend gefasst entgegen. Später erzählt sie wieso:

Belinda: »God! Women’s Awards…«

Fleabag: »Congratulations!«

Belinda: »Oh, it’s infantilizing… bollocks.«

Fleabag: »What? Don’t you think it’s good to…?«

Belinda: »No! It’s ghettoizing. It’s a sub-section of success… Arse-fucking children’s table-awards.«

Fleabag: »Why did you go?«

Belinda: »Because I’d be an arsehole not to.«

Woran sich Belinda hier stört, könnte man mit dem Begriff Tokenismus beschreiben. Dieser bezeichnet die rein symbolische Geste, eine Einzelperson stellvertretend für die Diversität einer Gesellschaft oder eines Teams auszustellen, ohne sich wirklich für Inklusion und gegen Diskriminierung von Minderheiten einzusetzen – quasi als Alibi. Tokenismus ist der Grund, warum sich ein Preis für die »Best Woman in Business« merkwürdig anfühlt. Und warum er etwas anderes symbolisiert als ein unkategorisierter Preis für wirtschaftliche Leistung.

It’s lonely (at the top)

Die US-amerikanische Soziologin Rosabeth Moss Kanter gilt als eine der ersten und prägenden Wissenschaftler*innen für den Tokenismus-Begriff. Sie hat in den 1970er-Jahren Unternehmensstrukturen auf die Anzahl der angestellten Frauen untersucht. Und sie hat dabei erkannt, dass Frauen überall so unterbesetzt waren, dass sie die Funktion eines »Tokens« einnahmen. Sie wären eher als Symbol behandelt worden, als Repräsentant*innen ihres Geschlechts, nicht als Individuen. Ähnliches lässt sich bei allen Menschen feststellen, die aufgrund ihrer Herkunft, Sexualität, Identität oder ihres Aussehens aus einer ansonsten sehr homogenen Gruppe oder Gesellschaft herausstechen. Sie können sich schwer mit anderen solidarisch austauschen, weil sie als Token der Gruppe isoliert werden.

Azadê Peşmen schreibt über diese negative Rollenzuschreibung 2017 im Missy Magazine: »Diese erhöhte Sichtbarkeit wirkt sich nicht unbedingt positiv aus. Sobald ein Fehler gemacht wird, wird dieser nicht als individueller Fehler gelesen, der mal passiert, sondern er wird auf die gesamte imaginierte Gruppe übertragen. (…) Umgekehrt wird man, wenn man in der Rolle des Tokens steckt und gute Arbeit leistet, dafür nicht gelobt.« Das ließe sich zum Beispiel dann beobachten, wenn ein*e muslimische Schauspieler*in in eine Talkshow eingeladen wird und dort »den Islam« erklären soll, statt vom neuen Filmprojekt zu erzählen.

Auch die Autor*innen der Studie »Tokenism and Its Long-Term Consequences« beobachteten, dass beispielsweise Literaturauszeichnungen für nicht weiße Autor*innen dazu führten, dass Bücher anderer PoC-Autor*innen geringere Aufmerksamkeit erhielten. Jenen, die eigentlich von Diversitätskriterien profitieren sollten, wird also das Gefühl vermittelt, dass es nur eine*n geben dürfe, dass sie sich mit anderen Repräsentant*innen ihrer Gruppe im ständigen Wettbewerb befinden würden. Der Zwiespalt, der sich bei dieser Diskussion auftut: Wie fördern wir in Kultur und Medien eine Vielfalt in der Gesellschaft und verhindern andererseits, dass einzelne Personen als »Symbolfiguren« ausgenutzt werden?

Die angehende Literaturwissenschaftlerin Sophie E. Seidler fasst das Problem im Kulturmagazin Bohema prägnant zusammen: »Es gehört zu den großen Paradoxien der Gegenwart, dass die plumpe Identifikation mit Labels eigentlich abgeschafft gehört, aber da sie ja doch im Alltag und im Kulturbetrieb eine Rolle spielt, affirmativ hervorgehoben und aktiv gefördert werden muss, um den Personen, die sonst unter den Tisch fallen, zu ihrem Recht zu verhelfen.«

Talita Simek (Bild: Christopher Hanschitz)

Wahrnehmung vs. Wirklichkeit

Talita Simek ist Kulturmanagerin und Schauspielerin in Wien. Sie sieht den Begriff des Tokens mit gemischten Gefühlen. Einerseits könne dieser als Abwertung für jene Künstler*innen verwendet werden, die sich in den Vordergrund stellen und für wichtige Repräsentation sorgen – wie etwa schwarze Schauspieler*innen in Hauptrollen. Andererseits sei ihr das Thema Tokenismus wichtig, weil sie selbst schon Erfahrungen gesammelt habe, in denen sie sich ausgenutzt gefühlt habe. Bei großen Kultur- oder Politikveranstaltungen sei sie oft die einzige Person of Color im Raum. Manchmal, erzählt sie, werde sie zu einer Veranstaltung eingeladen, nur um dann herauszufinden, dass um Diversität als Tagesthema gehe: »Wenn man bei diesen Veranstaltungen dann über Rassismus spricht, wird man komisch angeschaut. In Österreich werden genug Leute ausgegrenzt – auch im künstlerischen Bereich. Und all diese Leute bindet man leider nicht ins Gespräch ein. Gerade bei Förderungen, die eigentlich Diversität in den Fokus stellen wollen, fühlt es sich an wie eine Art Zensur. Es wird sehr viel Kultur in Wien gefördert – das ist auch gut so. Aber als PoC oder Teil der LGBTQIA*-Community soll man Stücke inszenieren, die ›dazupassen‹, die Diversitätskriterien erfüllen. Als Kulturschaffende möchte ich aber ein Stück machen können, bei dem es egal ist, ob meine Identität Thema ist oder nicht.«

Alex, Sänger und Komponist der queeren Band Pop:sch, hat zwar selbst bislang wenig Tokenismus erlebt, sieht die Thematik aber ebenfalls gespalten: »Als Band betrifft uns das nicht allzu sehr, weil wir sowieso nur über queere Themen singen und unsere Lieder voll von unserer Lebensrealität sind. Wir haben aber sehr wohl gehört, dass wir Buchungen nur bekommen hätten, weil wir schwul oder lesbisch seien. Meistens von anderen Bands. Die sagen das dann mit so einem Augenzwinkern – und haben aber wahrscheinlich auch recht. Wir würden zum Beispiel nicht auf der Regenbogenparade spielen, wenn wir nicht die Texte hätten, die wir haben.«

Was man verändern könne, um Vielfalt mehr zu fördern? Das lasse sich oft nicht an einem konkreten Punkt festmachen. Dennoch setzt sich auch Alex dafür ein, dass es nicht reiche, wenn Diversität nur öffentlichkeitswirksam präsentiert werde: »Man könnte etwa im Radio die Musikauswahl ändern. Vielleicht sogar die Leute, die diese Musikauswahl treffen.« Denn, was nützt ein öffentlicher Auftritt mit diversen Künstler*innen, wenn hinter den Kulissen die Entscheidungsgewalt und die Finanzierungsmöglichkeiten weiterhin bei denen liegen, die vor 35 Jahren auch schon die Macht innehatten? So hatten 2022 nur sechs Prozent aller deutschen Chefredakteur*innen einen Migrationshintergrund – und selbst diese kamen alle aus angrenzenden Staaten. Diese Zahl stammt übrigens vom Mediendienst Integration in Deutschland, von einer der wenigen Quellen für aktuelle Daten zum Thema. Warum gibt es hier nicht mehr regelmäßige Studien?

Ein sich leider immer wieder einschleichender Vorwurf, wenn es um das Thema Tokenismus geht, ist auch die falsche Annahme der »umgekehrten Diskriminierung« oder die fehlgeleitete Kritik an Quoten oder Quotenforderungen. Der Vorwurf: Wenn man gewisse Bevölkerungsgruppen extra fördere, diskriminiere man dann damit automatisch alle anderen, die nicht dazugehören. Also beispielsweise ein Stipendium für FLINTA*-Nachwuchskünstler*innen sei unfair, weil andere Kunstschaffende sich dafür gar nicht erst bewerben könnten. Oder ein Preis für »Women in Business« sei diskriminierend, weil er die männlichen Kollegen ausschließe.

Pop:sch (Bild: Pop:sch)

Umgekehrte Diskriminierung?

In ihrem TED Talk greift die australische Journalistin Antoinette Lattouf dieses manipulative Narrativ auf und erzählt, wie ihr ein Redakteur klagte, dass es wegen Tokenismus heutzutage unmöglich sei, als Mann befördert zu werden – während er gleichzeitig selbst eine hochrangige Position bekleidete. Aber: »Das reichte aus, damit er sich nun als Opfer fühlen konnte.« Denn wer an gewisse Privilegien gewohnt ist, für den fühlt sich Gleichberechtigung wie Diskriminierung an. Tokenismus ist also sicherlich keine Form von umgekehrter Diskriminierung – aber kann er ein wirksamer Weg zur Gleichberechtigung sein?

Beim Blick auf die langfristigen Auswirkungen von Tokenismus, fallen schnell die großen Nachteile auf, die Menschen durch diese vereinzelnde Aufmerksamkeit bekommen. Die Autor*innen von »Tokenism and Its Long-Term Consequences« schließen sogar darauf, dass die Inklusion von »tokenisierten Individuen« dazu benutzt werden kann, andere Menschen der repräsentierten Gruppe strukturell auszuschließen. Auch Antoinette Lattouf sieht dies ähnlich: »Wenn etwas tokenisiert ist, dann führt dies zu mehr Diskriminierungen und mehr Anfeindungen.«

Alibi für AfD

Ein Extrembeispiel ist AfD-Lieblingstoken und -Vorsitzende Alice Weidel. Zwar befindet sich diese in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung mit einer Frau aus Sri Lanka, möchte sich aber weder als queer bezeichnen noch lässt sie sich deswegen darin irritieren, rechtspopulistische Politik zu betreiben. Die Partei AfD wiederum nützt das, um Kritik an ihrem menschenfeindlichen und diskriminierenden Parteiprogramm abzuwehren und ihre Positionen zu legitimieren. Denn wie könne diese Kritik stimmen, wenn die eigene Vorsitzende sich nicht davon diskriminiert fühle?

Schlussendlich tragen wir alle die Verantwortung, Tokenismus zu vermeiden, Diskriminierungen zu erkennen und uns für echte Inklusion einzusetzen. Representation matters – aber es darf nicht ausschließlich auf dieser Ebene bleiben. Denn es reicht eben nicht aus, Stellvertreter*innen für Diversität zu benennen, sondern es müssen Strukturen grundlegend so verändert werden, dass mehr und diversere Menschen darin Platz haben. Die einzigen, die tatsächlich von Tokenismus profitieren, sind jene, die von ihren meist unfair erreichten privilegierten Positionen nicht abrücken wollen.

Talita Simek hat zuletzt Produktionsleitung und Presse für die Produktion »Der Kissenmann« im Off Theater Wien gemacht. Aktuelle Infos zur Band Pop:sch gibt’s auf Instagram und Facebook.

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