Neue Vielseitigkeit: Zwischen Zirkuskunst, Akrobatik und Ballett

Strikte Stiltrennung im Tanz ist out. Heutzutage sind Offenheit, Vielseitigkeit und Akrobatik die wichtigsten Kriterien eines erfolgreichen Tänzers.

© Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

Lange kämpfte die Tradition des klassischen Tanzes gegen eine Revolution aus den eigenen Reihen. Doch seit einiger Zeit schleichen sich nicht nur neue Stile, sondern mit Zirkuskunst und Akrobatik gänzlich neue Elemente auf die bedeutenden Bühnen der Welt. Vielseitigkeit und Offenheit sind nun für Tänzer oberste Prämisse.

Wer bei dem Gedanken an Bühnentanz nicht sofort an ein hageres Mädchen in Tutu und Spitzenschuhen denkt, gehört auch in einer Zeit, in der es über 250 Tanzarten gibt, zur Minderheit. Seit Jahrhunderten – genauer seit dem 15. Jahrhundert, in dem Ballett erfunden wurde – verankerte sich das Bild von Tanz auf großen Theaterbühnen in Form von Pirouetten drehenden Ballerinas in den Köpfen der Gesellschaft. Auch wenn seit jeher alle Bevölkerungsschichten die unterschiedlichsten Tänze prägten, als tänzerische Hochkultur gilt das Ballett.

In den vergangenen 70 Jahren gab es aber schon die eine oder andere Revolte: In einer modernen Parallelwelt zum Ballett entwickelte sich das scheinbar unendliche Universum des zeitgenössischen Tanzes – meist bloßfüßige Darbietungen höchster Körperbeherrschung zu den oft nicht eingängigsten Melodien. Auf einem gänzlich anderen Tanz-Planeten etablierten sich unter vielen anderen Gruppen diejenigen, die ihren Körper lieber zu rhythmischen Hip-Hop-Klängen bouncen lassen oder im Fransenrock geschmeidige Jazz-Choreographien einstudieren. Aber eines war immer ganz klar: Entweder man tanzt klassisch, also Ballett, oder den Rest.

Zeitgenössischer Tanz – Christina Zauner tanzt ohne Spitzenschuhe und Tutu © Márcia Neves

Die neue Vielseitigkeit

Die Zeiten der strikten Stil-Trennung im Tanz gehören aber der Vergangenheit an. Heutzutage muss Vielseitigkeit an oberster Stelle des Leistungsspektrums eines Tänzers stehen, der mit seiner Berufung auch Geld verdienen möchte.

„Es kommt oft vor, dass man zu einer zeitgenössischen Audition geht und am Ende eine Musical-Choreographie tanzt,“ sagt Christina Zauner, selbständige Tänzerin aus Schärding in Oberösterreich. Die 21-Jährige begann – wie so gut wie all ihre Kollegen – schon mit vier Jahren ihre Tanzausbildung. Bis zu ihrem zwölften Lebensjahr besuchte sie eine Ballettschule in ihrem Heimatort.

Als sie Zuhause an die Grenzen des klassischen Unterrichts gestoßen ist, wechselte Christina Zauner an die Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien. Dort schloss sie 2014 ihre professionelle Ausbildung in klassischem und zeitgenössischem Tanz ab – denn auf Vielseitigkeit legte Zauner schon bei der Wahl des Studiums wert.

Zirkuskunst im Opernhaus

Das Beherrschen vieler verschiedener Tanzstile sichert aber nicht nur den Tänzern die Jobs, es öffnet auch den Choreografen gänzlich neue Möglichkeiten der Inszenierung. Sie mischen nun die Tanzstile und brechen die strikten Grenzen der Kunst damit auf.

Die Offenheit beim Kombinieren unterschiedlichster Tanzarten geht so weit, dass in den letzten Jahren Zirkuselemente in Choreographien Einzug gehalten haben. Akrobatik am Boden und in der Luft gibt dem Bühnengeschehen einen neuen Touch und lässt die Tänzer regelrecht schwerelos wirken.

Mit beeindruckender Bodenakrobatik eroberte die Formation Flying Steps die Tanzwelt. Das Konzept ihrer Show „Flying Bach“ mag seltsam anmuten: Breakdance gepaart mit klassischem Ballett – zehn junge durchtrainierte Männer buhlen um die Gunst einer Ballerina zu den Klängen von Johann Sebastian Bachs „Wohltemperierten Klavier“. Doch wo die Headspins, Powermoves und Freezes aufhören, beginnen die grazilen Bewegungen der klassischen Ballerina und nehmen sie nahtlos auf. Selbst in Opernhäusern wirken die Performances in tänzerischen Harmonie heimisch.

Ballett und Breakdance – die Show „Red Bull Flying Bach“ verknüpft zwei unterschiedliche Tanzwelten © Mauro Puccini / Red Bull Content Pool
Ballett und Breakdance – die Show „Red Bull Flying Bach“ verknüpft zwei unterschiedliche Tanzwelten © Mauro Puccini / Red Bull Content Pool

Die Schwerkraft überwinden

Vom Boden in schwindelerregende Höhen geht es mit Luftakrobatik. Aerial Silk, Aerial Hoop, Aerial Net und Aerial Rope – die Männerversion – gehören zum Standardprogramm in Cirque du Soleil. Seit kurzer Zeit fügen sich diese anmutend leicht und tänzerisch höchst anspruchsvollen Elemente auch in Choreographien auf den Theaterbühnen ein.

Christina Zauner (rechts) im Aerial Net mit Julia Katharina (links) und Maria Moncheva (Mitte) – beide am Aerial Hoop © Facebook / Christina Zauner

Christina Zauner erkannte – getrieben aus eigener Neugier für Zirkuskunst und Akrobatik – das Potenzial von Aerial Dance.

Es sind Bewegungsformen, die in erster Linie an die Schlangenmenschen im Zirkus und nicht an die Bühne der Staatsoper erinnern. Aber auch dort, im ehrwürdigen Haus am Ring, durfte Zauner bereits ihr Können als Tänzerin und Luftakrobatin in der Produktion „The Tempest“ zeigen.

Christina Zauner als Luftakrobatin am Luster der Wiener Staatsoper in „The Tempest“ © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
Christina Zauner als Luftakrobatin am Luster der Wiener Staatsoper in „The Tempest“ © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Tänzer und Akrobat in Personalunion

Auch für Ralf Stabel, Rektor der renommierten Berliner Ballettschule, ist Vielfältigkeit und vor allem die Offenheit gegenüber allen Stilen und Bewegungsformen oberste Prämisse. „Tänzer mit akrobatischen Fähigkeiten sind in der Welt sehr gefragt“, sagte Stabel im Interview mit der Berliner Morgenpost. „Und ein Akrobat mit tänzerischen Fähigkeiten genauso.“ Etwa ein Drittel seiner rund 300 Schüler aus 28 Ländern habe das Potenzial erkannt: Sie wollen Akrobaten werden. Die restlichen 200 ihr tänzerisches Können mit akrobatischen Fähigkeiten vervollständigen.

Von einer kombinierten Ausbildung hätte Christina Zauner aber nur träumen können. Sie war eine der ersten in Wien, die mit Aerial Dance begonnen hat, und brachte sich eine Vielzahl der Techniken selbst bei. Ihr Weg führte sie von Aerial Silk zu Aerial Hoop, weil die Gegebenheiten auf der Bühne für das lange Seidentuch oft nicht optimal sind. Ihren Erfolg mit dem Metallring verdankt Christina Zauner viel Selbstbewusstsein, ihrer Vielseitigkeit und einer kleinen Notlüge.

Blick über den Tellerrand

Und derzeit hat Christina Zauner so viele Anfragen, dass sie kaum noch als Tänzerin, sondern vielmehr ausschließlich als Luftakrobatin arbeitet. „Rein tänzerisch gibt es viel mehr Konkurrenz. Da ist es oft eine Typsache, ob man den Job bekommt“, erzählt Zauner.

Obwohl sie nicht mehr die einzige Aerial-Hoop-Akrobatin in Wien ist, ist die Akrobatik-Welt im Vergleich zur Masse der ausschließlich tanzenden Wettbewerber durchaus überschaubar. In ihrem Umfeld kennt Christina Zauner mittlerweile einige Kollegen, die ebenfalls einen Blick über den Tellerrand des klassischen Tanzes wagen. Aber vor allem in den älteren Tänzergenerationen ist das System von strikten Stiltrennung noch verankert. Vielleicht fehlt bei diesen Kollegen nur ein kleiner Anstoß, um das neue, vielseitige Tanzen noch weiter zu verbreiten, vermutet Zauner hoffnungsvoll.

Mehr Infos über Christina Zauner als Tänzerin findet ihr hier, mehr Infos zu Aerial Silk beispielsweise hier

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