Die verlorene Zukunft der Vergangenheit

Du liest es in Blogs, merkst es am Zeitschriftenstand, und man sieht es in den fragenden Augen von jungen Individualisten – Pop ist, wieder einmal, tot. Jetzt auch offiziell: anläßlich von Simon Reynolds Buch „Retromania: Pop Culture’s Addiction to its Own Past“ hat Max Freudenschuss eine Chronik des popkulturellen Niedergangs verfasst.

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Ist Pop mittlerweile wie die Möbelhäuser, die nur noch 60er- und 70er-Replikas verkaufen? Oder wie teuer ausgewaschene Jeans, die so perfekt Second Hand vortäuschen? Sind wir wirklich so kaputt? Kein Klassiker der Popgeschichte, kein verschollenes Juwel mit Langzeiteinfluss, kein drittklassiges Album etablierter Acts – es gibt nichts, das nicht als delikate Doppel-CD mit Extra-Booklet und schlecht aufgenommenen Frühversionen neu auf den Markt geworfen wird und dem meist in die Jahre gekommenen und finanzpotenteren Fan auf schmerzlichste Art und Weise seine aussterbende Sucht vor Augen führt.

Das Vergangene, historisch Abgesicherte zieht und wirkt wahrhaftig – was sich auch an der Formatwahl bemerkbar macht: Musikfans bejubeln die Steigerung an Vinylverkäufen in den letzten Jahren, in Wahrheit ist dieser Aufschwung aber ausschließlich der Wiederveröffentlichung des Kanons auf LP geschuldet – »Back To Black« oder »Music on Vinyl«-Reissues von »Meat Is Murder« und »Born In The USA« haben längst die innovativen Neuerscheinungen aus den Regalen verdrängt.

In der Zwischenzeit sind kaum mehr kleinere Läden übrig, die noch ein gesundes Verhältnis aus Backkatalog und Unbekanntem anbieten möchten, weil es einfach nicht mehr möglich ist, interessierte Käufer dafür in die Läden zu bringen. iTunes bietet die Pop-Vergangenheit gleichberechtigt mit neuen Veröffentlichungen an, und die Charts sind ein Spiegelbild dieser Entwicklung: auf drei aktuelle Titel kommt mittlerweile ein Klassiker, der aufgrund von Fernsehhochzeiten, Promi-Toden und anderen Formen von akuter Retromania wieder downgeloadet wird. Kein Wunder, dass Acts, die noch von ihrer Musik leben können, in diesem Klima keine Lust auf Experimente haben: Neue Alben werden in der Regel als Rückkehr zur erfolgreichsten Phase der Karriere konzipiert und promotet, nicht als Weiterdrehen an einer stringenten künstlerischen Entwicklung.

Fulminantestes Beispiel der letzten Monate mit dem in diesem Zusammenhang wohl absurdesten, trotzdem seltsam passenden Titel: Duran Durans »All You Need Is Now«. Stimmt, wenn man nur wüsste, was now ist! Egal wie breitenwirksam oder avanciert, Popmusik inszeniert sich mittlerweile als imaginiertes Spektakel ihrer gloriosen Vergangenheit, wenn sie nur ein wenig Relevanz verbuchen will. Anders wird sie nicht mehr verstanden.

Wir müssen immer weiter durchbrechen

Als ich 1996 in Liverpool war, konnte man sich auch damals nicht des Eindrucks erwehren, dass die ganze Stadt popkulturell nur noch aus einem Beatles-Museum bestand. Gut, es war der Höhepunkt des Britpop-Hypes, und überall in England wurde stolz die Nabelschau der eigenen Popgeschichte betrieben, nur war es gleichzeitig auch das erste Mal, dass Retro als kulturelles Phänomen den ganzheitlichen Triumph über den Glauben an die lineare Entwicklung von Pop feierte.

Bis dahin war man sich einig, dass der technologische Fortschritt, der zuerst Synthesiser und Heimstudio, sowie später Sampling ermöglichten, und die Attitude und Sprache jeder neuen Generation, die Kraft haben, Pop immer weiter fortzuschreiben, zu beschleunigen und den Soundtrack des lebendigen Lebens zu generieren. Natürlich gab es auch schon damals die Untoten, sogar noch mehr als heute: Gitarren-Aficionados, meist mit Haaren bis zum Arsch, die in allen musikalischen Entwicklungen seit Ende der 70er nur den Feind sahen, und am liebsten in einer streng abgetrennten Welt bis 1975 leben wollten, mit »ehrlichem« Rock und kruden Authentizitäts-Fantasien. Noch in diesen Tagen trifft man diese Leute zum Beispiel in Wiener Secondhand-Plattenläden an.

Deren schlechtes Vorbild ist auch bis heute der Grund, warum sich so viele Forty-Somethings eher auf die Zunge beißen würden als zuzugeben, dass sie in der Popwelt ihrer Adoleszenz doch am besten aufgehoben sind und die Gegenwart eigentlich gar nicht brauchen. Man muss deshalb ja nicht gleich der übelgelaunte Miesmacher auf den hinteren Plätzen in Tageszeitungen werden.

Pop ohne Gegenwart

Aber genau darin liegt schon ein wesentliches Problem, mit dem sich Popkultur mittlerweile herumschlägt: wer braucht noch ihre Gegenwart? Und gibt es diese überhaupt noch? Haben wir uns nicht mittlerweile an gewissen prägnanten Stellen ihrer Geschichte eingenistet und begreifen nach unzähligen Cultural-Readern zwar, wie sie entstanden ist und warum es sie gibt, aber nicht, wie wir sie fortschreiben können? Scheitern wir nicht alle am Anspruch, dieser Geschichte gerecht zu werden und trotzdem eine eigene Stimme zu finden?

Natürlich gab es auch vor Oasis schon Bands, die sich an gewisse Punkte der Vergangenheit träumten, um dem ihrer Meinung nach fehlgeleiteten State of the Art von Pop zu entkommen. Indie, wie wir es heute kennen, ist so entstanden: der Beginn des Creation Labels sowie das Auftauchen von The Smiths 1983/4 markierten den Punkt, an dem der slicken 80er-Popwelt mit Synthie-Rauschen und Bombastproduktionen eine idealisierte Welt der 60er entgegengehalten wurde, ein auch reaktionäres Zurück in die Kindheit, das einerseits den damaligen Hochglanz-Pop verachtete, andererseits aber die politische Haltung und die Reflektion über die eigenen Produktionsmittel in die Popmusik wieder einführte: eine Zelebration der Anti-Haltung, die sich vor allem über ihren übermächtigen, so oft oberflächlichen Feind definierte.

Das 70er-Revival, das die gesamten 90er Jahre determinierte, konnte nur als Gegenpol zu den Werten der 80er Jahre entstehen. Und ab Mitte der 90er waren sich schon wieder einige Kids einig, dass sie der herrschenden Klasse im Pop mit ihrer belanglos gewordenen Allerweltselectronica und zum Genrebegriff verkommenen Indie-Romantik am ehesten beikommen können, wenn sie sich der von der Allgemeinheit verleugneten wie verhassten Ästhetik der 80er bedienen. In den Medien eingestanden wurden diese Entwicklungen mit immer größer werdenden Ressentiments, weil diese Generationenkonflikte dort schon länger nicht mehr begriffen werden.

Journalismus in der Krise

Denn die vermeintliche Krise der Popmusik ist vor allem eine journalistische Krise. Seit das Hauptgeschäft der Verbreitung von News und des Vorhörens von Platten weggefallen ist, versuchen Musikmagazine hauptsächlich mit der detailversessenen Konzentration auf Legenden Käufer zu finden. Die 46. Aufarbeitung des mittleren Bob Dylan oder das hochoffiziöse Nachbeten der Joy Division-Legende bringt eben mehr Käufer an die Kassen als die Beschäftigung mit einer noch weitgehend unerklärbaren Gegenwart.

Das Entscheidende ist, dass die Dinge entschieden sein müssen. Popjournalisten waren bis vor 15, 20 Jahren meist junge Redakteure ab dem Teenager-Alter, die sich in Musikzeitschriften kreativ austoben durften. Ab einem gewissen Alter und entsprechendem Talent wurden diese dann in andere Ressorts oder Zeitschriften geholt, um mit steigendem Gehalt auch »seriöser« zu agieren.

Heute ist Popmusikredakteur in größeren Medienhäusern eine Lebensanstellung. Mit fortgeschrittenem Alter kommt das Wissen, aber auch die nicht aufzuhaltende Fixierung auf persönliche Soundvorlieben, die einem mit der eigenen Adoleszenz unausrottbar eingeschrieben sind. You can’t help the feeling. Man hat von früher eine theoretische Idee davon, was »vorne sein« bedeutet, und stülpt diese Erfahrungen über neue Gesichter. Letzten Endes sucht man im Neuen dann eben doch nur die Bestätigung dieser Erfahrungen, und die Gewissheit, im eigenen System noch zuhause zu sein. Und deshalb gelten heute Bands als wichtig, die vielleicht nicht andere Bands kopieren, aber deren historische Bedeutung. Jeder kennt mittlerweile die Popgeschichtsbücher, und weil wir alle so wohlerzogen sind, möchten wir diesen auch gerecht werden, anstatt sie zu verlachen. Das ist auch der Grund, warum Bands seit 20 Jahren hauptsächlich musikalische Sekundärliteratur produzieren.

Nachschub an der Hypefront

Exemplarisch dafür sind die (ehemaligen) englischen Weeklies NME, Melody Maker und Sounds, die Popjournalismus zu einer eigenständigen Kunstform machten, die Woche für Woche prätentiös, arrogant und wortgewaltig Popmusik und ihre Protagonisten zu Spielbällen ihrer gesellschaftlichen und sehr widersprüchlichen Utopien machten. Der entscheidende Faktor ist dabei, dass diese Medien nicht für das Publikum schrieben, sondern es letztlich gleichgültig links liegen ließen. Jeder, der sich ernsthaft für Pop interessierte, verharrte in einer Art Hassliebe zu diesen Heften, doch diese Schule des Magazinmachens ging um die Welt und fütterte letztlich eine Theorie, die Pop als gesellschaftlichen Katalysator ebenso wie als Abziehbild einer sich laufend transformierenden, im Kern aber unantastbaren jugendlichen Rebellion definierte. Sie sorgte für ständig neuen Nachschub an der Hypefront und die regelmäßige Durchspülung des Systems Pop, in dem die Sensation der letzten Saison zum diesjährigen NoNo erklärt wurde – wobei die Musik immer nur für die grundsätzlichen Fragen des Lebens und wie man ihnen begegnet synonym stand.

Revival nach Revival nach Revival

Heute ist Popmusik ein endlos langer Kaugummi. Jeder, der sagt, dass sich Moden und Strömungen bei Pop- oder Dance-Musik so furchtbar schnell abwechseln, hat keine Ahnung oder den Popism der 80er und die Clubkultur der 90er nicht erlebt. Es läuft alles mittlerweile irrsinnig langsam. Größtenteils ist der Unterschied zwischen einem Track von 2001 und 2011 marginal, kein Vergleich zu den Entwicklungen zwischen, sagen wir, 1978 und 1988, oder 1965 und 1975. Revivals eines spezifischen Sounds dauern mittlerweile länger als der Zeitraum, in denen sie als Original als relevant galten.

Und nachdem der Eurodance-Sound der frühen 90er Jahre in ein paar Jahren auch beim letzten Zweifler rehabiliert sein wird, kommt die Vergangenheitsbewältigung irgendwann in der Gegenwart an, um zeitlos alles möglich sein zu lassen. Wir sprechen auch kaum mehr über Musik und was sie in uns auslöst, sondern ausschließlich über die strukturellen Veränderungen in den Vertriebskanälen. Heute findet jeder alles irgendwie gut, und Indie ist der Soundtrack der Hauptabendwerbung – war es das, was wir immer wollten? Wo bleibt der Sieg?

Weltweit Regionalisten

Wobei gewinnen sowieso immer schwieriger wird. Ökonomisch ist die Gegenwart für Popmusiker so trist, dass die Vergangenheit mit ihren finanzpotenten Majors und Bigger than Life-Stars allein deshalb schon immer heller leuchten muss. Nach 40 Jahren Superstarfighter bleibt von Pop allein das Handwerk im Ausführen und Denken übrig und das, was man früher etwas abfällig den »Local Hero« nannte. Die Promotionmöglichkeiten im Internet mögen weltweit unbegrenzt sein, doch in Wirklichkeit regionalisieren sich die noch verbliebenen Märkte zunehmend. Und so wird bald jede größere Stadt ihre eigenen The Fall, ihre eigene PJ Harvey und ihre eigenen Animal Collective haben, die sich nicht mehr an internationalen Vorbildern werden messen müssen, sondern als völlig legitime, lokale Dienstleister für 50 Minuten Eskapismus bereit stehen. Wir werden unseren Spaß daran haben, aber versucht uns nicht weiszumachen, dass es noch POP ist.

Der Katalysator zum Text – »Retromania: Pop Culture’s Addiction To Its Own Past« von Simon Reynolds – ist Anfang Juni via Faber & Faber in Buchform erschienen.

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