Die Liste an Vorurteilen gegenüber Zirkus ist lang: Er sei kindisch, dreckig, kriminell, tierquälerisch – und so weiter. Doch dass Zirkus auch rebellisch und sogar revolutionär sein kann, beweisen nicht erst moderne queere Experimente. Das zeigt sich immer wieder in seiner Geschichte, wie die Zirkusforscherin Birgit Peter weiß.
Wie schön ist doch diese utopische Vorstellung vom Zirkus: eine egalitäre Wahlfamilie von Außenseiter*innen, die frei von äußeren Zwängen, Grenzen oder Konventionen durch die Lande streift und Lebensfreude verbreitet. Dass realer Zirkus diese Utopie nie erreichen kann, scheint auf der Hand zu liegen. Dennoch gibt es gerade in den letzten Jahren eine Reihe von Zirkusprojekten, die diesen utopischen Anspruch näher an die gelebte Realität bringen wollen. Und auch die geschichtliche Realität ist zwar weit komplizierter als das Ideal, lässt aber immer wieder Utopien aufblitzen.
Zirkus ist anti-bürgerlich
Für die Zirkusforscherin Birgit Peter ist Zirkus zuallererst einmal anti-bürgerlich. Im deutschsprachigen Raum begann sich der Zirkus Anfang des 19. Jahrhunderts als Gegenpol zum bürgerlichen Kunstideal Theater zu formieren. »Alles, was im regelmäßigen Theaterbetrieb ausgeschlossen wurde, fand im Zirkus Platz«, so Peter. »Aber die Geschichte ist gemein, weil das mit dem Ausschluss nicht so funktioniert hat wie gedacht. Zirkus wurde zur erfolgreichsten Unterhaltungsform im 19. Jahrhundert und hat den Nationaltheatern das Publikum weggeschnappt.«
Der enorme Erfolg begründete opulente Zirkuspaläste und Zirkusdynastien, die teilweise bis heute andauern. Dies deutet allerdings schon auf den großen Zwiespalt im historischen Zirkus hin. Einerseits war er (Über-)Lebensraum für marginalisierte Menschen, Gruppen und Ausdrucksformen. Andererseits aber auch Schauplatz von Ausbeutung, Menschenhandel und Turbokapitalismus.
Freiraum und Zwang
Diese beiden Seiten des Zirkus waren eng miteinander verwoben. So erzählt Peter etwa von »Straßenkindern, die von Impresarios (vergleichbar mit Kunstmanager*innen; Anm. d. Red.) versklavt und zu Artist*innen ausgebildet wurden, sich dann aber im Zirkus emanzipieren konnten und selbstständig wurden.« Oder von jungen Frauen, die vor bürgerlichen Ehen und Gewalt in den Zirkus flüchteten. Sie fanden neue Lebensformen, die den Erwartungen der Zeit entgegenliefen.
Als Beispiel nennt Peter etwa die Kraftfrau Madame Athleta: »Ihre Spezialität war es, ihren Ehemann und ihre beiden ausgewachsenen Söhne auf einmal zu stemmen. Das ist doch ein großartiges Bild gegen traditionelle Familienordnungen.« Gleichzeitig waren die Zirkusdynastien selbst meist höchst patriarchal und streng hierarchisch. Zirkus bot also eine Alternative zu vorgegebenen Lebensentwürfen, aber kein völliges Entkommen aus gesellschaftlichen Zwängen.
Nirgends wird diese Ambivalenz deutlicher als in den sogenannten Sideshows. Diese bildeten eine Nebenattraktion zum Hauptprogramm eines Zirkus oder fahrenden Jahrmarktes. Ausgestellt wurden, neben zusammengetragenen, wunderlichen und oft gefälschten Exponaten, vor allem Menschen. Unter der Bezeichnung Freaks – daher dann auch der Titel »Freak Show« – wurden diese, so Peter, »noch eine Stufe weiter weg aus der Gesellschaft geschoben. Sie wurden als Missing Link zwischen Mensch und Tier gesehen, als Wunderwesen, als Abnormitäten, als Kuriositäten. Sie wurden verdinglicht.«
Tod Brownings Kultklassiker »Freaks« aus dem Jahr 1932 zeigt – mit Darsteller*innen aus tatsächlichen Sideshows – dieses Kippen zwischen Horror und Faszination. Nichtsdestotrotz erlaubten es Sideshows Menschen, die sonst keinen Unterhalt gefunden hätten, zu überleben und manchmal sogar eine gewisse gesellschaftliche Anerkennung zu finden. »Überlebenstechnik als Unterhaltungsform«, so fasst Peter diese Funktion des ursprünglichen Zirkus für dessen Mitarbeiter*innen ganz allgemein zusammen.
Diese Perspektive umzudrehen, Freaks, Außenseiter*innen und marginalisierte Identitäten von der Sideshow, von den Rändern der Gesellschaft auf die Mitte der Bühne zu holen, ist einer der Ansätze hinter aktuellen queeren Zirkusprojekten. Ende August gastierte der Circus Sodomelli als (vorerst) einmaliges Projekt auf dem ÖBB-Gelände neben dem Brut Nordwest im 20. Wiener Gemeindebezirk. Das Programm verkündete vollmundig: »In der lustvollen Zeltstadt erwarten Sie genderfluide Artist*innen, feministische Athlet*innen, anti-autoritäre Dompteur*innen, rebellische Dressurnummern und BDSM-Horrorclowns, antifaschistische Jongleur*innen und viele sensationelle, perverse Attraktionen.« Hinter der Aktion steht Sodom Vienna, ein künstlerisch-politisches Projekt initiiert von Gin Müller. Zirkus ist nur eine der historischen Formen, deren queeres Potenzial Sodom Vienna unter dem Motto »100 Jahre rotes Wien« auslotet.
Alle machen alles
Die Liste der beteiligten Gruppen, Kollektive und Personen ist lang: Fearleaders Vienna, Denise Palmieri, Dada Zirkus, Gin Müller, Peter Kozek, Thomas Hörl, Andreas Fleck, Katrinka Kitschovsky, Tuntathlon, Cie.Lou / Zirkus Kollektiv Kaudawelsch, 2 Pigs under 1 Umbrella, Beri Sayici, Birgit Peter, Flame Rain Theatre, Verena Brückner, Oluchukwu Akunsinanwa (aka Lovemore), Dr. Cunt N. Further, Circus Salto Morale und das Lazy-Life-Kollektiv.
Vom Vorbereiten der Stellfläche, über das Aufstellen des Zeltes, bis hin zum Rahmenprogramm: Hier machen alle alles. Inklusive Bar, Popcorn, Animation, Glücksrad, Ponyreiten mit BDSM-Pony und Kutsche. Auch das ist klassisch Zirkus. Bei allen möglichen real bestehenden Hierarchien, am Ende ist die Arbeit immer kollektiv geteilt. Der Circus Sodomelli ist für Peter »eine Verneigung vor dem traditionellen Zirkus. Er erzählt die Geschichte des Zirkus, des Andersseins, des Gegenläufigseins, der rebellischen Lebensfreude. Ein Arbeiten gegen das Vorurteil.«
Zirkus gehört sich nicht
Aktuelle Zirkusprojekte wie der Circus Sodomelli sind beileibe nicht die ersten und einzigen Versuche, Zirkus zu modernisieren. Seit den 70ern findet das Internationale Zirkusfestival von Monte Carlo statt und seit den 80ern tourt der wohl heutzutage weltweit bekannteste Zirkus: der Cirque du Soleil. Es scheint jedoch kein Zufall, dass gerade Arte der Sender ist, der beides regelmäßig ausstrahlt. Einerseits, weil die Vorurteile gegen Zirkus außerhalb des deutschsprachigen Raumes vielfach weniger stark ausgeprägt sind. Und andererseits, weil beide Veranstaltungen auf eine Legitimation des Zirkus als Kunstform abzielen, auf eine Integration des Zirkus in bürgerliche Kunstvorstellungen.
Für Peter geht es im Zirkus aber vorwiegend um die Schaulust, um das Staunen, nicht um das Intellektuelle: »Es gibt einen Moment, in dem man sich einfach freut, dass man lebt. Dieser Moment ist Zirkus. Das ist der Grund, warum Menschen den Zirkus lieben. Es sagt aber sehr viel über unsere Gesellschaft aus, dass Zirkus sich für Erwachsene nicht gehört. In den Zirkus geht man mit den Kindern. So ein Ausdruck purer Lebensfreude darf in unserer Gesellschaft nicht sein.«
Dieses Feiern von Lebensfreude, von Lust, von Körperlichkeit machen wohl auch den queeren Reiz von Zirkus aus. Statt jedoch verdinglicht zur Schau gestellt zu werden, stellen sich die Performer*innen selbst zur Schau, stellen ihr Anderssein, ihre Körper, ihre Fähigkeiten zur Schau. Schaulust als Lust am Schauen und Schaustellen. So queer geht Zirkus.
Von 3. bis 6. November 2021 veranstaltet Sodom Vienna im Brut Nordwest die »Sodom Vienna Revue« inklusive großem Rahmenprogramm davor und danach. Am 16. Oktober gibt es außerdem eine Sodom-Vienna-Exkursion unter dem Titel »Auf den Spuren von Sodom & Gomorrha (1921 / 22)«. Weitere Informationen und kommende Veranstaltungen lassen sich auf der Facebook-Page von Sodom Vienna nachlesen.