Zur Hölle mit dem Internet

Das Coming-of-Age-Drama »Joven Y Alocada« entwirft eine zeitgemäße Vision von Teenagern, die innere Widersprüche mit Hilfe des Internets ausbalancieren. Unverkrampft verschränkt der Film ein kreatives, sexpositives Kino mit jugendlicher Mediennutzung.

Aus rechtlichen Gründen werden Artikel aus unserem Archiv zum Teil ohne Bilder angezeigt.

Am Morgen erholt sich Daniela auf dem nackten Oberkörper eines beliebigen Teenagers, der auf dem Boden eines beliebigen chilenischen Wohnzimmers schläft. Um sie herum liegen andere Jugendliche, die gemeinsam ihren Rausch ausschlafen. Alles deutet auf eine ausgelassene Partynacht. Plötzlich lässt die 17-jährige ihre Hand in ihr Höschen gleiten und beginnt zu onanieren. Während sie sich selbst befriedigt, denkt sie noch nicht an den Gottesdienst, bei dem sie gleich ihre Arme zum Himmel strecken und singen wird. Noch versucht ihre streng gläubige Mutter vergeblich, sie anzurufen. Ihr Mobiltelefon vibriert leise, als Daniela dem Jungen ins Gesicht stöhnt.

Sex, Schuld und Sühne

»Joven Y Alocado« ist das Langfilmdebüt der chilenischen Filmemacherin Marialy Rivas. Die 35-Jährige porträtiert ein Mädchen, das sich den erdrückenden Widersprüchen ihres Alltags hingibt und langsam zur Frau wird. Im Fokus steht die Bloggerin Daniela (Alicia Rodríguez). Sie führt ein Doppeldasein, von dem ihre gläubige, latent aggressive Mutter nie erfahren darf. Auf der einen Seite ist Daniela der repressiven Religiösität ihrer Familie ausgesetzt. Auf der anderen Seite führt sie ein sexuell ausschweifendes Leben und bloggt darüber. Religiöse Erbsünden klatschen auf bisexuelle Neugierde. Konservative Gewalterziehung reibt sich am digitalen Alltag lustvoller Teenager.

Coming of Age 2.0

Ihnen verspricht das Internet Freizügigkeit und Selbstdarstellung, Schutz vor der Privatsphäre bietet die Anonymität in der digitalen Masse. Rivas schafft es, gänzlich unverkrampft das Medium Internet im Kino auch als das darzustellen, was es für sehr viele Jugendliche längst ist: ein erweiterter Lebensraum, in dem sie miteinander Erfahrungen austauschen, sprich erwachsen werden. Vorbildlich für dieses Verhältnis der Selbstermächtigung ist unter anderem eine fast unscheinbare Szene im Film: Als der kleine Bruder von Daniela seiner großen Schwester erklärt, wie sie den Verlauf ihres Browsers löschen und vor der autoritären Mutter verbergen kann.

Wir erleben »Joven Y Alocado« aus der Perspektive der Hauptdarstellerin. Die Kamera bleibt hautnah an ihrem Körper, bei ihrem Blick und ihrer inneren Zerrissenheit. Per Gedankenstimme führt sie durch die Kapitel des Films, die jeweils durch Blog-Einträge markiert werden. Neu ist diese Unmittelbarkeit gerade für das Coming-of-Age-Genre freilich nicht. Originell ist aber, wie hier die Entscheidungsfindung veranschaulicht wird. Das Publikum folgt den Intuitionen und Assoziationen von Daniela. Auf sie wirkt ihr digitaler Alltag selbstverständlich ein. Die Handlung wird mit Tempowechsel, Found Footage, pornografischen Inhalten, Musikvideosequenzen, Traumszenen oder jugendlichen Usern vor Webcams gebrochen, die das Geschehen kommentieren. Den Einstellungen nach erinnern die Sexszenen nicht zufällig an Internetpornografie. Die Erzählung bleibt klar, während die verschiedenen, irrationalen Reize die Hauptfigur einfärben.

Internetkino

Der Film wird immer wieder zum abstrakten Mosaik, das die alltägliche Suche im Internet plastisch macht. Jugendliche Mediennutzung wirkt so besonders nachvollziehbar. Und mit ihr das Erforschen der eigenen Sexualität, die parallel dazu durch das Internet geprägt wird. So steht »Joven Y Alocado« den sexuellen Bedürfnissen seiner Teenager sehr aufrichtig gegenüber. Statt dem selbstverständlich expliziten Sex wird die Gewalt repressiver Erziehung problematisiert.

All das verortet den Film dann wieder dort, wo er herkommt – in seiner jugendlichen Zielgruppe. Denn als Vorlage diente der gleichnamige echte Blog der 21-jährigen Camilla Gutierrez. Mit ihr erarbeitete die Regisseurin das Drehbuch. Ihr ganz persönliches, widersprüchliches Erwachsenwerden wurde so zu einem beispielhaften Gegenwartskino, das angstfreien Sex hat.

»Joven Y Alocada« (»Young And Wild«) wird im Rahmen des Internationalen Jugend-Medien-Festivals Youki (20.-24. November) gezeigt. Nähere Infos unter: www.youki.at

Bild(er) © Marialy Rivas
Newsletter abonnieren

Abonniere unseren Newsletter und erhalte alle zwei Wochen eine Zusammenfassung der neuesten Artikel, Ankündigungen, Gewinnspiele und vieles mehr ...