Gewagte Grammatik, Anglizismen, Gender-Sternchen, Emojis, Abkürzungen und Aussparungen. Droht uns der Sprachverfall?
Schnelle Antwort: nein. Lange Antwort: Sprache verändert sich. Sie ist kein geschlossenes, abgeriegeltes System. Neues kommt dazu, was man nicht mehr braucht verschwindet. Diesen Sprachwandel gibt es schon seit gesprochen wird und damit wohl auch die leidige Diskussion darüber, wie andere, fremde Spracheinflüsse die eigene Sprache kapern und kaputt machen wollen. Allerdings ist dieser Wandel bedingt durch soziale Medien mit all den Emojis, Kürzeln, Memes, Gifs und gewagten grammatikalischen Konstruktionen erstmals so richtig sichtbar und mitunter in Reels, Storys und Tiktoks auch hörbar.
Bei so etwas beginnen konservative Sprachkritiker*innen dann natürlich nervös zu werden. Und wenn wir schon dabei sind: Beim inklusiven Gendern fährt unter der Sprachprofessor*innenschaft ebenfalls irgendwer regelmäßig aus dem Schnürlsamtsakko respektive Bouclé-Blazer. Da wird dann gleich einmal Sprachverfall gewittert. Dabei tut die Sprache letztlich nur das, was sie wirklich ziemlich gut kann: Sie formt und schafft Bewusstsein. Beim Gendern sogar sehr effizient mit Sternchen oder Doppelpunkt oder Punkt oder Rufzeichen oder Unterstrich oder was es sonst noch alles gibt.
lol, lal, lawl, lel, lül
Überhaupt ist Effizienz oberste Maxime. Noch nie wurde so viel geschrieben wie heute. Chats, Blogs, SMS, Status, Tweets – da kommt einiges zusammen, das schnell verfasst und verschickt sein will. Es ist eine neue schriftliche Form der Kommunikation, die sich hier entwickelt hat, und sie hat nur wenig mit dem gemein, wie man üblicherweise schreibt bzw. alphabetisiert worden ist. Es regieren Abkürzungen, Aussparungen, Weglassen und nicht allzu langes Nachdenken. Und zwar nicht nur bei Millennials und Post-Millennials, wie die brisanten Chatprotokolle aus den Machtzirkeln österreichischer Spitzenpolitik so zeigen, die in den letzten Monaten öffentlich wurden.
Als pars pro toto sei hier ans wunderbare »(…) wer vorbereitet Gernot auf seine Vernehmung?« erinnert und daran, dass der höchste und wichtigste Beamte im Justizministerium wissen wollte, wer denn den Finanzminister schön durchbrieft, bevor die WKStA auf ein Intensivinterview vorbeischaut. Syntaktisch knackig, sehr ans Englische erinnernd kommt die Frage daher. Wer hier an Sprachverfall denkt, ist selber schuld. Vielmehr sollte einem der Sittenverfall zu denken geben, der sich offenbart.
Es steckt also einiges an kreativem Potenzial in der informellen, schriftlichen Kommunikation mit ihren Abkürzungen und Emojis. Der Zeichenhaufen lebt. Man wird etwa überrascht sein, was sich alles mit der Ziffer »1« so ausdrücken lässt. Und selbst das unscheinbare Akronym »lol« schwirrt in unterschiedlichsten Schreibweisen und Bedeutungsnuancen durch die Plattformen. Ein kleiner Auszug: lal, lawl, lawlz, lel, lelz, lollig, lolol, lololol, lolwut, lool, loool, lolz, löl, lölz, lul, lulz, lül. Das ist nicht Sprachverfall, sondern in dieser komprimierten Form ein Manifest der Mannigfaltigkeit, an dem dadaistische Sprachbastler wie Hugo Ball heute ihre Freude hätten. Folglich hat es »lol« auch in den Duden (Anm.: als »EDV-Jargon«, lol) und in die Umgangssprache geschafft.
Ist die deutsche Sprache also in Gefahr? Der langen Antwort kurzer Sinn: nein. Die hält das aus. Dringender sollte man eher Themen wie Datenhandel, Echokammern, Filterbubbles, Cybermobbing, Fake News und Hatespeech diskutieren. Gerne auch abgekürzt und mit Emojis. Wie es mitunter an anderer Stelle in diesem Heft passiert.
Dass die Sprache stets in Bewegung ist, bildet sich auch in jenen Wörtern ab, die neu in den (Online-)Duden aufgenommen werden. 2021 waren es mehr als 500, etwa ein Fünftel davon hat einen Corona-Bezug. Die aktuellsten Neueinträge kurz vor Drucktermin: Chancenplus, Nudging, Yogalates und Mikroabenteuer.
Anlässlich unseres 25-Jahr-Jubiläums haben wir uns in The Gap 192 »25 Fragen zur Gegenwart« gestellt. Dieser Beitrag beantwortet eine davon.