Screen Lights: Bin ich der schlimmste Mensch der Welt? – 25 Fragen zur Gegenwart (12/25)

Christoph Prenner bewegen bewegte Bilder – in diesem Kompendium zum gleichnamigen Podcast schreibt er drüber. Diesmal widmet er sich Joachim Triers »Der schlimmste Mensch der Welt«, einem Film »für Erwachsene, die immer noch den Eindruck haben, dass sie nicht wissen, wie man erwachsen wird« (O-Ton Trier).

© Filmladen Filmverleih — Renate Reinsve in »Der schlimmste Mensch der Welt«

Titel, die sitzen. Die klingeln und knallen. Die kann er, der Joachim Trier. »Louder Than Bombs« heißt etwa eine der bekanntesten Arbeiten des Filmemachers. Sie war erfreulicherweise auch inhaltlich richtig laut. Das jüngste Werk des Norwegers ist nun als »The Worst Person in the World« in den internationalen Kinoprogrammen zu finden – und sein momentaner Siegeszug bis hin zum Oscar-Fame (dazu gleich mehr) ist neben der offenkundigen Güte dabei auch fix auf diesen erneut ungemein zwingenden Trier-Titel zurückzuführen. Ist der doch außerordentlich gut geeignet, unverzüglich und unweigerlich die hauseigene Gedankenmühle anzuwerfen. Den schlimmsten Menschen der Welt, den kennt man schließlich. Meist ist es jemand anderes. Das Arschloch, das einen versetzt, gekränkt, enttäuscht hat. Oder halt dieser eine Komplexler, der gegenwärtig den halben Planeten in Kummer stürzt. Mitunter ist man der schlimmste Mensch der Welt aber auch selbst. Zumindest vermutet man zuweilen etwas in dieser Art. Im Zweifel für den Zweifel. An sich selbst.

Julie kennt das Gefühl. Natürlich ist die junge Osloerin unter keinen objektiv haltbaren Umständen »Der schlimmste Mensch der Welt« (wie der Film, dessen Protagonistin sie ist, ohne Not eingedeutscht heißt), sie hat dennoch oft genug den Eindruck, genau diese Person zu sein. Aber wie sollte es ihr auch anders gehen in einer Gesellschaft, die ihr auf die wenig Subtile ständig eintrichtert, dass sie das mit dem Verfolgen der eigenen Träume und Lebenspläne unter gar keinen Umständen auf die leichte Schulter nehmen soll – und schon gar nicht daran scheitern. Scheitern ist schließlich schlimm, Zaudern allerdings auch. Die ganzen großen Gedankengänge zu Bestimmung, zu Beruf und Berufung, zu Beziehung und, ja, Baby – die gehören jedenfalls alle zur rechten Zeit gemacht. Natürlich nur für dich selbst! Was die Angelegenheit freilich nicht angenehmer macht. Denn besonders, wenn dir die ganze Welt offensteht und an jeder Straßenecke Chancen bereitstellt, will jede Entscheidung umso besser abgewogen werden. Auch oder ganz besonders auf ihre womöglich irreversiblen Folgen hin – für dich und alle, die da mit dir drinhängen (werden). Und so grüßt täglich das Murmeltier: Ist mein aktuelles Leben das, das ich führen möchte – oder wäre das doch ein ganz anderes?

Willkommen im Mäandertal, in dem ein Design for Life nur genau so lang das stimmigste ist, bis sich ein potenziell erstrebenswerteres am Horizont auftut. Und warum auch nicht? Warum nicht wie Julie versuchen, doch noch verspätet als Fotografin eine neue Bestimmung zu finden, weil die eigenen Shots auf dem iPhone doch ganz geil sind und weder das Medizin- noch das Psychologiestudium davor das Gelbe vom Ei waren? Warum nicht darüber hinaus – und ganz besonders – auch noch mal dem wilden Schlag des Herzens folgen, wenn eine neue Gelegenheit potenzielle Liebe macht und die bisherige Beziehung über den stabil eingegroovten Alltag eh schon ewig nicht mehr hinausreichte? Eben. Weichen sind schließlich dazu da, regelmäßig gestellt zu werden. Wenn da nicht dieses dauernagende Gefühl wäre, etwas potenziell Grundverkehrtes zu machen – und zwar unabhängig davon, wofür man sich tatsächlich entscheidet. Selig, wer nicht sofort in Schockstarre verfällt in diesem Szenario. Das bestimmt auch dann nicht erträglicher wird, wenn wie bei Julie die große Drei vorn in der Altersangabe im akuten Anmarsch ist. Au the very contraire.

Aufreibend aufregend

Man kommt halt schlichtweg nicht umhin um das Beschwören und Aufrechterhalten der eigenen Main-Character-Energy, um das nimmermüde Bestreben, ein selbstverfasstes Skript für das eigene Sein immer wieder aufs Neue zu verfassen und diesem dann auch noch gerecht zu werden. Ein Unterfangen, das so unerlässlich wie aufreibend wie aufregend ist. Für uns alle, jeden Tag, so divers die Vorzeichen auch sein mögen. Und dieser fortwährende existenzielle Eiertanz ist es auch, der Triers Film »für Erwachsene, die immer noch den Eindruck haben, dass sie nicht wissen, wie man erwachsen wird« (O-Ton Trier), letztlich so universell und über die konzis abgesteckte Identität seiner Protagonistin hinaus nachvollziehbar macht. Und zu einem der großen Konsenswerke der aktuellen Filmsaison werden ließ – vom Instant-Hype bei den Filmfestspielen in Cannes, wo Renate Reinsve für ihr Quasi-Spielfilmdebüt als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet wurde, bis hin zu den Oscar-Nominierungen in den Kategorien »Bester internationaler Film« und »Bestes Originaldrehbuch«.

»Der schlimmste Mensch der Welt« (Foto: Filmladen Filmverleih)

Neben Reinsves strahlendem Spiel ist ebendieses Drehbuch mit seiner bestechenden, empathischen Beobachtungskraft auf dieser Mission Triers größtes Trumpf-Ass. Dabei ist seine unvorhersehbare, mit glitzerndem Dialog-Lametta behängte Ode an das Zögern und Zweifeln so ehrlich, gar nicht übermäßig daran interessiert zu sein, zwischen euphorischer Romanze und bittersüßem Beziehungsdrama letztgültige Antworten auf die Frage zu finden, wie das gute und glückliche, möglichst rechtschaffene Leben im Hier und Heute ausgestaltet sein sollte. Lieber zeigt der Norweger in visuell durchgehend erfrischender Manier auf, wie unvereinbar jeweilige individuelle Wege auch sein können. Der eigene mag dir da in der entsprechenden Lebensphase zwar sinnvoll scheinen, mitunter aber eben nur dir selbst. »The Worst Person …« kommt hier zum gern bemühten, aber ewig gültigen Schluss, dass das Leben eben oft weniger das erreichte Endziel ist, sondern all das Schöne und Spannende wie auch Schmerzhafte, das einem widerfährt, während man noch aus der ganzen Sache schlau zu werden versucht. Mit allen Fehlern und falschen Einschätzungen, die in einem bisweilen den Eindruck aufkommen ließen, dass man grad mal wieder der schlimmste Mensch der Welt ist.

Christoph Prenner plaudert mit Lillian Moschen im Podcast »Screen Lights« zweimal monatlich über das aktuelle Film- und Seriengeschehen – und hatte während der allzu ausgedehnten Erstellungsphase und mehrfachen Abgabeverschiebung dieser Kolumne selbst oft das Gefühl, der schlimmste Mensch der Welt zu sein. Er bedauert und gelobt Besserung. Unser Kolumnist ist per E-Mail unter prenner@thegap.at zu erreichen bzw. auf Twitter unter @prennero zu finden.

Anlässlich unseres 25-Jahr-Jubiläums haben wir uns in The Gap 192 »25 Fragen zur Gegenwart« gestellt. Dieser Beitrag beantwortet eine davon.

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