Ein viel diskutiertes Thema der letzten Jahrzehnte ist der öffentliche Raum, vor allem im urbanen Gefüge. Sabine Knierbein, leitende Professorin des Interdisciplinary Centre for Urban Culture and Public Space an der TU Wien, über die vielschichtigen Perspektiven und Herausforderungen, die uns als Gesellschaft in Zukunft im Kontext des öffentlichen Raumes beschäftigen werden.
Eingangs eine allgemeine Frage: Welche Rolle spielt der öffentliche Raum für eine Gesellschaft?
Sabine Knierbein: In Bezug auf den öffentlichen Raum finde ich es sinnvoller vom Partikularen ins Generelle zu gehen und nicht umgekehrt, weil das Thema so weitläufig ist. Und ich würde die Frage nach dem öffentlichen Raum auch in den Zusammenhang von Stadtkultur setzen. In meinem Verständnis ist die Basis, die beide Themen verbindet, das Alltagsleben in den Städten und die unterschiedlichen kulturellen Praktiken, die daraus entstehen. Außerdem sollte vielleicht besser von den öffentlichen Räumen gesprochen werden. Viele Forschende bestehen schon länger auf diese Benennung im Plural, weil die Räume so vielseitig und viele Lesarten möglich sind. Unsere Wahrnehmung hängt stark damit zusammen, wo wir in der Gesellschaft stehen, welche Erfahrungen und welche Interessen wir haben – und auch damit, aus welcher Disziplin wir die öffentlichen Räume verstehen möchten.
Wie ist das Verhältnis von öffentlichen Räumen und ihrer Nutzung? In den letzten Jahren wurde ja viel zur Relevanz öffentlicher (Frei-)Räume diskutiert, sei es deren Verbauung oder Aneignung durch verschiedenste Gruppen.
Ich würde nicht sagen, dass sich die öffentlichen Räume akut im Niedergang befinden. Seit der Covid-Pandemie hat das Thema neue Aufmerksamkeit erfahren, aber diese Transformationsprozesse sind allen, die sich schon länger mit dem Thema befassen, seit rund drei Jahrzehnten bewusst. Viele urbane Facetten treten zwar im öffentlichen Raum zutage, aber die Phänomene dahinter sind in der ganzen Gesellschaft zu finden. Damit meine ich zum Beispiel Trends wie Individualisierung und De-Kollektivierung. Was dazu führt, dass Identitätspolitiken präsenter sind und die Beanspruchung von Raum als identitätsstiftendes Moment wichtiger wird. Aktuell ist die Aneignung des öffentlichen Raumes also nicht mehr automatisch eine Form der Kollektivierung, sondern plötzlich ebenso Teil der Individualisierung – so absurd das klingt. Für lange Zeit bestanden auch relativ stabile und zuordenbare Öffentlichkeiten, die mit Protesten sichtbar waren, doch das bricht langsam auseinander und formiert sich in neuen Formen von »publics«.
Welche Entwicklungen haben dazu geführt? Und wie kann mittels öffentlichem Raum ein Gegengewicht zu diesen gesellschaftlichen Tendenzen geschaffen werden?
Wir befinden uns in der Klimakrise, Krieg und Pandemie umgeben uns; wir erinnern uns an die Refugee-Bewegungen der letzten Jahre und an das Aufkommen autoritärer Politikstile, siehe Bolsonaro oder Trump. Die urbanen Situationen stehen schon immer in einem Spannungsverhältnis zwischen Festigen und Aufbrechen, aber in den letzten Jahren ist dieses Verhältnis stark in eine Richtung gekippt. Das gesellschaftliche Phänomen der Individualisierung – anders als ein klassenbasiertes Verständnis von Gesellschaft – produziert Druck zur Aneignung des öffentlichen Raumes, und das ist einer der Gründe, warum bestimmte Gruppen noch schneller mit ihren Anliegen auf der Straße protestieren. Die öffentlichen Räume werden also umkämpfter. Dies kann auch Potenziale für Demokratisierung bieten, aber nur, wenn gewisse Grundwerte wie Respekt oder Unversehrtheit beachtet und geteilt werden. Ansonsten drohen populistische, autoritäre und gewaltvolle Praktiken Überhand zu nehmen. Ich finde es daher essenziell, das Thema der Gewaltfreiheit wieder präsent zu machen. Denn Gewaltausübung findet überall statt, sei es vom Staat aus oder gegen den Staat, zwischen Gruppen oder auch zu Hause, Stichwort Femizide. Die öffentlichen Räume sind Orte, um Formen des respektvollen Umgangs auszuhandeln und Varianten der Non-Violence zu trainieren.
Viele dieser Punkte betreffen die Art und Weise, wie öffentliche Räume genutzt werden. Aber wie äußern sich aktuelle Tendenzen im baulichen Sinne? Wird beispielsweise die aktivistische Nutzung des öffentlichen Raumes stadtplanerisch eingeschränkt?
Natürlich gibt es Backlashes in diese Richtung. Wir haben dazu auch Studien gemacht, die im Buch »City Unsilenced« beschrieben sind. Nach den Bewegungen wie den Indignados Movements, Occupy Wallstreet oder den Gezi-Park-Protesten wurden öffentliche Räume mancherorts umgeplant und für Demonstrationen weniger zugänglicher gemacht. Dies ist aber keine neue Vorgehensweise, sondern war schon zur Zeit des Wiener Ringstraßenbaus Teil der Stadtplanung. Nicht ohne Grund gibt es keinen großen Platz direkt vor der Universität Wien und der Ring ist nicht rund, sondern mehreckig-geradlinig, um Studentenprotesten keinen Raum zu bieten und um militärische Kontrolle von Protesten zu ermöglichen.
Heute passiert viel Stadtplanung an den Stadträndern, wo viele Menschen wohnen. Hier entstehen auch Parks und viel öffentliche Räume, die allerdings oft standortpolitisch gedacht werden und zur Aufwertung der Wohnungen dienen. Zwar wird immer wieder der Alltagskultur oder dem nachbarschaftlichen Austausch Raum gegeben, aber die politische Dimension des Austausches oder die Förderung von Demokratisierungsprozessen kommt dabei zu kurz. Viele Kommunen berichten von Problemen mit der Inanspruchnahme des öffentlichen Raumes durch nicht-demokratische Gruppen. Deshalb bräuchte es verstärkt wieder den (Bildungs-)Auftrag an die Kommunen, die politische Teilhabe und demokratische Nutzungen zu fördern.
Wo siehst du Ansatzpunkte, um das angesprochene Spannungsverhältnis in Gesellschaft und öffentlichem Raum wieder zu verschieben?
Der Transformationsdruck und der Druck auf das Alltagsleben ist in den letzten Jahrzehnten tatsächlich massiv gestiegen und wird mit jeder Krise verstärkt. Das wird sich auch im öffentlichen Raum durch stärker ausgetragene Antagonismen zeigen. Verbal ist dies bereits spürbar, in ganz alltäglichen Situationen. Oder in der digitalen Welt, die zu einem bedeutenden Austragungsort von Gewalt geworden ist. Diese Verrohung auf der sprachlichen Ebene, in der Öffentlichkeit, im Alltag, ist der erste Schritt zu anderen Formen von Verrohung, die sich in politischer Gewalt ausdrücken. Hier müssen wir versuchen, möglichst früh anzusetzen, und diese Kette von Verrohungen stoppen. Ich denke, die Kommunen, aber auch beispielsweise Kulturveranstalter*innen, die im öffentlichen Raum arbeiten, müssen diese Entwicklungen sehr ernst nehmen und Programme darauf fokussieren, Teilhabe zu ermöglichen. Kulturelle Institutionen erwähne ich deshalb, weil sie starke Auswirkungen auf das soziale und politische Leben in ihrem Umfeld und somit auch auf die Öffentlichkeit im Allgemeinen haben können.
Seit Dezember 2008 ist Sabine Knierbein mit der inhaltlichen Entwicklung des Forschungsbereichs Stadtkultur und öffentlicher Raum an der Technischen Universität Wien sowie mit der akademischen Netzwerkbildung auf internationaler Ebene betraut. Ihre Schwerpunkte in Lehre und Forschung liegen neben methodischen Fragen vor allem auf sozialen, kulturellen und politischen Dimensionen der Urbanisierung im Kontext des urbanen Alltagslebens und des gelebten Raumes.
Anlässlich unseres 25-Jahr-Jubiläums haben wir uns in The Gap 192 »25 Fragen zur Gegenwart« gestellt. Dieser Beitrag beantwortet eine davon.