Benedikt Narodoslawsky hat mit seinem Artikel im Datum "Tief im Schlund" gehörig Aufmerksamkeit für die Protestbewegungen gegen die SVA und das relativ unsoziale soziale Netz in Österreich erzeugt. Im Wortwechsel "Solidarität 1.0 versus Realität 2011" kam er bereits kurz zu Wort. Für ein ausführliches Gespräch haben wir uns nochmals mit ihm zusammengesetzt.
Benedikt, wo siehst du das größte Problem im Zusammenhang mit der um die SVA entstandenen Debatte?
Das größte Problem ist nicht die SVA selbst, sondern dass das soziale System in Österreich verschiedene Gruppen verschieden behandelt. Es gibt bei uns 22 Sozialversicherungsanstalten und jede davon bietet unterschiedliche Leistungen an. Das ist historisch gewachsen und hat vielleicht vor Jahrzehnten Sinn gehabt. Aber heute ist das weder zeitgemäß, noch sozial.
Es sollte egal sein, ob man Angestellter, Selbständiger oder Landwirt ist, jeder sollte die gleichen Leistungen bekommen. Heute werden aber Selbständige gegenüber Angestellten diskriminiert – wenn sie krank werden, bekommen sie zum Beispiel kein Krankengeld. Arbeitslosenversichert sind sie auch nicht. Und das, obwohl viele Selbständige oft gar nicht freiwillig selbständig sind, sondern in die Selbständigkeit gedrängt wurden und im Prekariat leben. Wer noch immer glaubt, dass alle Selbständigen reiche Unternehmer sind, der hat sich im Jahrhundert geirrt. Viele von ihnen leben heute unter der Armutsgrenze und zählen zu den ärmsten Menschen in unserer Gesellschaft.
Trotzdem steht die SVA im Zentrum der Kritik, warum?
Die Zahlungen an die SVA sind sehr hoch, für Wenigverdiener stellt das ein echtes Problem dar; viele können sich also die Beiträge einfach nicht leisten. Ungerechter Weise kommt bei der Kritik die SVA als Institution zum Handkuss. Den Ärger lassen die Betroffen zwar verständlicherweise bei der SVA selbst ab, da sie deren Geld fordert, ihnen Mahnungen schickt und sie im schlimmsten Fall exekutiert, aber eigentlich sollten sich die Proteste gegen die Politik richten. Schließlich ist die SVA nur die Versicherung, die die Regeln ausführt, die ihr die Politik diktiert.
Hat die Politik verschlafen, sich um die "Kleinsten" in der Gesellschaft, die EPU (Ein-Personen- Unternehmen), zu kümmern?
Die Politiker haben in den vergangenen Jahren schon für ein paar Verbesserungen gesorgt, zum Beispiel wurden die Mindestbeiträge gesenkt. Aber man kann sicher sagen, dass sich die Regierung lieber darum kümmert, was sich medienwirksam besser verkaufen lässt. Dass sich die Situation der Selbständigen verbessert, ist derzeit sicherlich nicht ihr oberstes Anliegen.
Ein Beispiel: Alle Parteien fordern eine Verbesserung beim Wochengeld, das heißt, selbständige Mütter sollen im Mutterschutz mehr Geld bekommen. Obwohl kein Mensch versteht, warum selbständige Mütter derzeit weniger Unterstützung bekommen als angestellte Mütter und sich alle einig sind, dass man das verbessern muss, hat die Regierung noch immer nichts beschlossen. Das zeugt schon von einer peinlichen Wurschtigkeit gegenüber dem Thema. Der Grund, warum nichts weitergeht, ist wohl der fehlende Druck. Selbständige und EPU haben – anders als beispielsweise die Eisenbahner oder Metaller – keine Lobby. Da ärgert und kämpft jeder für sich, das ist ein zersprengter Haufen. Und wenn die gemeinsame Organisation fehlt, dann fehlt auch der Druck auf die Politik.
Jetzt gibt es aber doch schon Bewegungen wie "Amici delle SVA", die sich über Facebook und andere soziale Netzwerke formieren. Ist das zu wenig?
Definitv. Es ist schon ein großer und wichtiger Schritt für das Anliegen der EPU, dass sie sich in solch einer Gruppe formiert haben.Für die Größe der Facebook-Gruppe haben die Amici delle SVA eh schon gehörig für Lärm und Aufmerksamkeit gesorgt. Um aber wirklich so starken Druck zu erzeugen, dass es zu einer "sozialen Revolution" kommt, ist diese Gruppe derzeit noch zu klein. Aber wer weiß, die Gruppe wächst ja stetig. Und ihr Potential ist riesig. Würden alle EPU auf die Barrikaden steigen, wären es eine Viertel Millionen Menschen.
Was muss deiner Meinung nach passieren um eine Besserung der Situation für Selbständige zu erreichen?
EPU sollten sozial gleich abgesichert sein wie Angestellte. Auch über die Beiträge muss man diskutieren. Derzeit zahlen reiche Selbständige prozentuell weniger als die armen. Ich persönlich finde, dass man das ändern sollte. Wenn die, die es sich eh nicht leisten können, einen größeren Teil ihres Einkommens an die SVA zahlen als die, die genug haben, dann läuft meiner Meinung nach etwas schief. Deshalb gehören die Höchst- und Mindestbeitragsgrundlagen abgeschafft.
Inwiefern werden Selbständige derzeit anders behandelt als Arbeitnehmer?
Das fängt schon beim Gang zum Arzt an. Selbständige bezahlen bei einem Arztbesuch 20 % Selbstbehalt, also ein Fünftel der Kosten. Es gibt Experten, die halten den Selbstbehalt für ein sinnvolles Steuerungsorgan. Aber dann sollten ihn alle zahlen. Momentan ist es aber so, dass Selbständige und Beamte einen Selbstbehalt zahlen müssen, Angestellte aber nicht.
Diese Ungleichbehandlung setzt sich im Krankheitsfall fort. Angestellte bekommen Krankengeld, Selbständige nicht. Das führt bei EPU dazu, dass sie ohne Einkommen dastehen, wenn sie krank werden. Und das führt wiederum dazu, dass Alleinunternehmer offiziell nur selten krank werden. Was inoffiziell nichts anderes bedeutet, als dass sie auch dann arbeiten, wenn sie krank sind, weil es gezwungenermaßen nicht anders geht. Da beginnt das System Krankenversicherung dann wirklich lächerlich zu werden.
Wenn man das alles betrachtet, wirkt es kaum erstrebenswert, sich selbständig zu machen. Warum wächst die Zahl der Selbständigen dennoch immer weiter?
Man darf nicht vergessen, dass viele Personen nicht freiwillig selbständig werden, sondern in die Selbständigkeit getrieben werden. Das AMS animiert Arbeitslose zum Beispiel, sich selbständig zu machen. Das verbessert nämlich die Arbeitslosenstatistik.
Das echte Problem sitzt aber tiefer. In manchen Branchen – zum Beispiel im Journalismus – ist es für Unternehmen üblich geworden, lieber Aufträge an freie Mitarbeiter zu vergeben, als Leute anzustellen, weil das billiger ist. Die Mitarbeiter sind zwar selbständig, arbeiten aber wie Angestellte, weil sie vom Unternehmen abhängig sind. Sie haben also weder die Vorteile der Selbständigkeit, noch die Sicherheit einer Anstellung.
Du bist ja selbst SVA-Versicherter. Gab es bei dir schon einmal Probleme oder Unangenehmlichkeiten?
Naja, freuen tu ich mich nicht über die hohen SVA-Zahlungen. Aber fairerweise muss man sagen, dass man als Selbständiger selbst darauf achten muss, dass genug Geld für die Beiträge und eine eventuelle Nachzahlung übrig bleibt.
Tun das nicht alle?
Ich denke, viele SVA-Versicherte sind zu schlecht informiert und nehmen die Zahlungen deshalb nicht ernst genug. Sie kümmern sich zu wenig darum, einen finanziellen Polster für mögliche Nachzahlungen zu schaffen, auch weil viele von ihnen es eben einfach nicht besser wissen.
Vielen EPU fehlt beispielsweise einfach die Zeit, sich mit diesem komplexen Thema auseinanderzusetzen. Die sind Produzenten, Verkäufer, Buchhalter, Organisatoren, und alles was sonst noch dazu gehört in einer Person, da kann man nicht in jedem Bereich Experte und Profi sein. Und wenn man verstehen will, wie sich die komplizierten SVA-Beiträge zusammensetzen und was es da alles zu beachten gilt, dann muss man leider Experte sein.
Sollten Politiker oder Entscheidungsträger auf die The Gap-Website und dieses Interview stoßen, was würdest du dir persönlich wünschen, um die Lage der SVA-Versicherten zu verbessern?
Die Politik muss erkennen, dass sich das Bild der Selbständigen geändert hat. Früher war der typische Reiche ein selbständiger Unternehmer und der typische Arme ein einfacher Hackler, der als Angestellter für den Unternehmer schuftete. Heute ist der typische Reiche ein Top-Manager, der bei einer AG angestellt ist. Auf der anderen Seite steht der Arme, den die Firma in die Selbständigkeit gedrängt hat, weil er als Angestellter zu teuer wurde und ihr jetzt als selbständiger Auftragnehmer viel weniger kostet.
Ich wünsche mir, dass die Politiker diese Problematik ernst nehmen. Und dass sie verhindern, dass jene SVA-Versicherten, die das soziale Netz am dringendsten brauchen, durch dieses Netz durchrutschen und schlechtere Leistungen bekommen als Arbeitnehmer. Kurz gesagt: Ich wünsche mir Gleichbehandlung.
Foto Benedikt Narodoslawsky (c) by Linecker Tom