Kann Pop die Welt verändern?

Im arabischen Frühling wurden unbekannte Musiker zu Symbolfiguren der Protestbewegungen. Haben sie den Aufstand befeuert oder nur die Begleitmusik eines Umsturzes geliefert, der auch ohne sie stattgefunden hätte? Über die Ambivalenzen von Revolutionsmusik.

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Jede Revolution hat ihre Hymnen. Ob Kampflieder oder Freiheitsballaden – gerade in Zeiten des Umbruchs spielt Musik als Verstärker von Gefühlen eine große Rolle. Altmeister Gil-Scott Heron meint gar: »Künstler sind dafür zuständig, bei den Leuten ein Umdenken zu bewirken. Wir bereiten den fruchtbaren Boden für Revolutionäre, sind aber selbst keine.« Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, das südafrikanische Anti-Apartheid-Movement, der Sturz der Diktaturen in Südamerika oder der Fall des Eisernen Vorhangs – all diese Ereignisse wurden von Musik begleitet, die bis heute noch legendär ist. Wie aber klingt der arabische Frühling?

Nicht erst seit 2011 singen und rappen junge Musiker in vielen arabischen Ländern für mehr Chancen und Gerechtigkeit. Die Videos stellen sie auf Youtube oder Facebook – und somit der ganzen Welt – zur Verfügung. Aber erst die Revolten in Tunesien und Ägypten rückten diese kleinen Musikszenen, die auch in ihren eigenen Ländern kaum mediale Präsenz hatten, plötzlich international ins Licht. Im Gegensatz zu den meisten arabischen Popstars zeigten viele unbekannte Künstler politisches Engagement, traten bei den Protesten auf und komponierten Revolutionssongs. Begeistert berichteten westliche Medien über täglich neue »Hymnen der Revolution«, die angeblich oder tatsächlich bei den Demonstrationen gesungen wurden. Im Juli 2011 erschien ein Sampler mit dem etwas sperrigen Titel »From The Kasbah/ Tunis To Tahrir Square/ Cairo and Back – Our Dreams Are Our Weapons« (Network). Er versammelt viele dieser tunesischen und ägyptischen »Revolutions-Hits«, ist gewissermaßen ein Soundtrack zur Revolution in diesen beiden Ländern.

Tunesien war das erste Land, in dem letzten Winter das Volk revoltierte. Auslöser war die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010. Die darauffolgenden Proteste richteten sich gegen das autokratische, korrupte Regime, die steigenden Preise und die hohe Arbeitslosigkeit, von der vor allem die Jugend des Landes betroffen war. Etwa 60 Prozent der tunesischen Bevölkerung sind unter 30 Jahre alt. Der Akademikeranteil ist zwar relativ hoch, doch bedeutet ein abgeschlossenes Studium bei weitem keinen Ausweg aus der Perspektivlosigkeit.

El Général – die Stimme der tunesischen Revolution

Einer, der sich mit den Zuständen in Tunesien nicht länger abfinden wollte, war der 23-jährige Pharmaziestudent Hamada Ben Amr. Als El Général veröffentlichte er schon am 7. November 2010 den Rap-Song »Rayes Le-Bled« (Präsident des Landes) über Facebook. Zum ersten Mal wagte es einer, den tunesischen Präsidenten direkt anzugreifen – manch böse Zungen spotten zwar, er wäre einfach nur zu blöd, seine Kritik an der Zensur vorbei in metaphorische Bilder zu verpacken, wie es die meisten seiner Rap-Kollegen taten. Allerdings: El Générals tunesisch-arabischen Lyrics trafen, untermalt von schweren HipHop Beats, genau den Nerv seiner Generation. Der Song verbreitete sich wie ein Lauffeuer und wurde Teil der entstehenden Protestbewegung. Als dann im Dezember die großen Proteste losgingen veröffentlichte El Général ein weiteres Lied »Tunis Bladna« (Tunesien ist unser Land), in dem er direkt zur Revolution aufrief.

Als das Regime auf seine Musik aufmerksam wurde, war es schon zu spät. Verhaftung und Gefängnis steigerten die Popularität des Rappers nur noch. Die internationalen Medien feierten ihn als »Stimme der tunesischen Revolution«, seine Songs erhielten weltweit Airplay auf etlichen Radiostationen und vom Time Magazine wurde El Général gar unter die 100 einflussreichsten Personen des Jahres 2011 gewählt. Dann hörten ein paar Journalisten bei seinen Liedern genauer hin und bemerkten: Der Typ rappt zwar gegen Armut und Unterdrückung, aber ebenso gegen Amerika und Israel und scheint dabei auch noch ziemlich religiös zu sein. In einem seiner Youtube-Musikvideos kämpft ein muslimisches gegen ein christliches Kreuzfahrerheer. »Mit der Unterstützung Gottes schaffen wir alles« heißt es da, von Palästina ist die Rede und der Befreiung aus der Sklaverei. El Général hängt sich auf seinen Konzerten die Nationalflagge seine Landes um, rappt »Allahu Akbar« (Allah ist groß), spricht in Interviews über eine internationale Verschwörung der Freimaurer und lässt markige martialische Kämpfersprüche los. Groß war auch die Befremdung, als die »Stimme der tunesischen Revolution« ankündigte, er würde nicht zu den tunesischen Wahlen gehen. (Er tat es dann aber doch, wie ein weiteres Youtube-Video bewies.)

Plötzlich wurde es in den westlichen Medien still um ihren einstigen Liebling. Hatte man sich zu euphorisch auf die Story dieses jungen Mannes gestürzt? Hatte man einen Islamisten vorschnell zum Sprachrohr Tunesiens hochstilisiert? Umgekehrt stellt sich jedoch die Frage, warum wir bei US-Rapper Kanye Wests »Jesus Walks« mitwippen, aber Bauchweh bekommen, wenn junge Muslime ihre Religion propagieren. El Général’s Aussagen mögen vielleicht nicht die reflektiertesten sein, doch drückte er zur richtigen Zeit das aus, was die wütende tunesische Jugend fühlte – und die hört nach wie vor HipHop. Seine Songs haben in Tunesien eine Rap-Lawine ausgelöst. Unzählige neue HipHop-Gruppen sind entstanden, jeder (männliche) Jugendliche, der etwas auf sich hält, tut rappend seine Meinung kund. Früher wäre das undenkbar gewesen. Zwar gab es eine kleine Rapszene, doch wer bekannt werden wollte, hatte sich dem Regime unterzuordnen, es gab bestimmte thematische »No-Go«-Regeln, die man einhalten musste, um Konzerte spielen und CDs verkaufen zu dürfen. Heute ist HipHop sogar im tunesischen Fernsehen präsent und El Générals erstes Album »La Voix Du Peuple« (Die Stimme des Volkes), das dieses Jahr erscheinen soll, wird vom Kulturministerium gesponsert. Ob es uns nun gefällt oder nicht – Leute wie El Général haben das alte Regime in Tunesien gestürzt, Leute wie er haben aber auch im Oktober die an-Nahda Partei an die Regierung gewählt. (Ob diese Parte nun – »islamistisch«, »konservativ religiös« oder »moderat islamisch« ist, darüber scheiden sich die Geister und wird wohl an der zukünftigen Politik der tunesischen Regierung zu messen sein.)


Badiaa Bouhrizi – das Good Girl

Aus einem völlig anderen ideologischen Eck als El Général kommt Singer-Songwriterin Badiaa Bouhrizi. Wenn El Général der Bad Boy der tunesischen Revolutionsmusiker ist, so ist sie als Pendant dazu das Good Girl. Ihre Musik ist eine Mischung aus arabischem Singer-Songwriting mit Jazz-, Reggae-, Rock und Popelementen, durchdrungen von orientalischen Verzierungen. Die Texte drehen sich oft um Liebe und andere menschliche Gefühle. Wenn Bouhrizi singt, schließt sie die Augen und legt ihre ganze Leidenschaft in diesen Moment. Vor allem in der Weltmusikszene ist die Sängerin ein Begriff, weshalb sie viel ins Ausland eingeladen wird.

Bouhrizi engagiert sich schon seit Jahren auch politisch. Ihr Bruder, ebenfalls Musiker, wurde unter Ben Ali aufgrund seiner Texte eingesperrt, sie selbst musste nach London fliehen, als sie ein Lied über einen Demonstranten schrieb, der bei Antikorruptionsprotesten in der tunesischen Stadt Redayef 2008 getötet worden war. Während des Arabischen Frühlings protestierte sie singend mit der Gitarre in der Hand vor der tunesischen Botschaft in London. Genau dasselbe taten viele andere tunesische Musiker der alternativen Songwriter-Szene auf den Demos in Tunesien. Sie wirkten dabei weniger wie revoltierende Wutbürger, sondern mehr wie Friedensaktivisten auf den Anti-Vietnam Demos der 70er Jahre. Ihr Einsatz für Frieden und Demokratie ging auch nach dem Sturz Ben Alis weiter. Badiaa Bouhrizi und fünf weitere tunesische Musiker, wie der relativ populäre Bendir Man, haben vor den tunesischen Wahlen im Oktober im Auftrag der Vereinten Nationen einen Popsong mit dazugehörigem Video namens »Enti Essout« (Du bist die Stimme) aufgenommen, um die Leute zum Wählen zu mobilisieren. Ob es aber dieses Lied war, das zu einer 90-prozentigen Wahlbeteiligung führte, darf bezweifelt werden.

Ramy Essam – der beharrliche Barde

Auch in Ägypten stürzte das Volk seinen Präsidenten und wählte daraufhin eine islamisch geprägte Regierung an die Macht. Der Staat am Nil ist ein politisches, ökonomisches und kulturelles Schwergewicht: Ursprungsland einflussreicher Ideologien von Pan-Arabismus bis muslimischem Fundamentalismus, Sitz der Arabischen Liga, Standort zahlreicher Universitäten und seit jeher Zentrum der arabischen Medien-, Musik- und Filmindustrie. »Platz der Befreiung« ist passenderweise die Übersetzung von Midan at-Tahrir. Der Tahrirplatz in der Innenstadt Kairos wurde 2011 zum Symbol der ägyptischen Protestbewegung. Tausende Menschen versammelten sich dort, um gegen Präsident Mubarak zu demonstrieren. So auch Ramy Essam. Bis zur Revolution war der 23-jährige Ägypter ein einfacher Student gewesen, der zum Zeitvertreib dann und wann auf seiner Gitarre klimperte und mit seiner Band ein wenig Softrock spielte. Als sich Ende Jänner immer mehr Menschen zu Demonstrationen versammelten, erklomm Essam eine Bühne am Tahrirplatz und sang »Irhal« (Hau ab). Eine unmissverständliche Botschaft an den Präsidenten. Von da an begleitete Essam fast täglich die Demonstranten mit der Gitarre beim Skandieren von Parolen, die den Sturz Mubaraks forderten, harrte mit ihnen in der Zeltstadt am Tahrirplatz aus und wurde mehrere Male von regimetreuen Schlägertrupps verprügelt, ja sogar mit Elektroschocks gefoltert. Doch kehrte er – noch mit den frischen Wunden im Gesicht – immer wieder auf den Tahrirplatz zurück, um seine politischen Lieder zu singen. Am 21. November erhielt Ramy Essam für seinen Einsatz von der schwedischen Freemuse Organisation, einer Stiftung, die sich weltweit gegen Musikzensur einsetzt, den Freemuse Award 2011. Was aber ist ein Revolutionsmusiker nach der Revolution? Zwar haben Essams kritische Texte einen gewissen Witz und Charme, wirklich revolutionär klingt seine Musik aber nicht. Der Held mit der Gitarre arbeitet nun an einem Album mit Songs vom Tahrirplatz. »Al-Midan« (Der Platz) soll es heißen. Trotz schicker Pressefotos und mittlerweile professionellem Management – vermutlich wird Essam auch in Zukunft ein musikalischer Underdog bleiben.


Hamza Namira – Ägyptens neues islamisches Idol

Das neue große Ding in der ägyptischen Popwelt ist Hamza Namira. Sein großer Hit heißt wie Ramy Essams Album »Al-Midan« und ist eine Lobeshymne auf das neue Ägypten und die Leute, die auf dem Tahrir-Platz in Kairo demonstrierten. Zwar haben auch viele andere Popstars nach der Revolution nationalistische Freiheits-Songs herausgebracht, einige Monate bestand sogar ein regelrechter Trend, die toten Märtyrer zu besingen. Die meisten dieser Lieder wirkten aber makaber und unglaubwürdig, da ein Großteil der althergebrachten Stars zur Revolution entweder geschwiegen oder sich sogar dagegen geäußert hatten. Hamza Namira hat kein Problem mit seiner Glaubwürdigkeit. Er hat sowohl die tunesische als auch die ägyptische Revolution von Anfang an offen unterstützt. Die Jugend liebt den Schnulzensänger, der zwar über weite Teile klingt wie ein arabischer Eros Ramazotti, dessen Texte sich aber um größere Themen als profane Liebe und Romantik drehen. Namira veröffentlicht auf dem Label Awakening Records, das auf islamischen Pop spezialisiert ist. Zufall oder nicht – parallel zur politischen Erstarkung religiöser Bewegungen und Parteien ist eine ähnliche Tendenz auch auf dem Musikmarkt zu beobachten. Aber es sind keine finster dreinblickenden bärtigen Gesellen, die hier mit erhobenem Zeigefinger oder der Faust Moralapostel spielen. Stars wie Hamza Namira geben sich als moderne weltoffene junge Männer, die sich philosophische und religiöse Gedanken über ihre Gesellschaft und die Welt machen. Im Prinzip sind sie die Gegenentwürfe zu den halbnackten Sängerinnen, deren Musikvideos im arabischen Musikfernsehen Dauerrotation haben. Hamza Namira ist somit konservativ und modern zugleich. Er steht für eine neue islamische Kultur und Identität, die im Post-Mubarak-Ägypten auch in der Popmusik eine immer stärkere Rolle spielen wird.

Lokale Helden statt internationale Stars

Auch wenn viele vorrevolutionäre Popgesichter wieder über die tunesischen und ägyptischen Bildschirme flimmern, in Tunesien und Ägypten wurden 2011 nicht nur die alten Machthaber gestürzt, sondern auch die Musikwelt durcheinander gewürfelt. Manche Subkulturen – vor allem HipHop – haben Zulauf, andere, wie elektronische Musik oder Metal, profitieren von den Revolutionen sicherlich insofern, dass sie durch weniger staatliche Repression freier arbeiten können – falls denn die arabischen Gesellschaften und Regierungen langfristig tatsächlich liberaler werden. Gerade die Underground-Szenen waren und sind im gesamten arabischen Raum und international gut vernetzt. Eine wirkliche öffentliche Plattform haben sie aber nach wie vor nicht. Transarabischer Popstar wird nur, wer länderübergreifend von den großen Medienkonglomeraten, wie z.B. dem saudischen Medienkonzern Rotana oder MTV Arabia, gespielt wird. Überhaupt ist der arabische Raum kulturell wie sprachlich keineswegs monolithisch. Er umfasst sowohl die reichen Erdölstaaten wie auch arme Länder wie den Jemen, hinzu kommen große sprachliche und kulturelle Unterschiede zwischen den Maghrebstaaten Westen und den Mashreqstaaten im Osten.

Subkulturen müssen nicht einem westlichen Publikum gefallen oder auf dem arabischen Mainstream-Musikmarkt Millionen zu scheffeln. Alternative Musik- und Lebensstile ecken hier noch an, fordern allein durch ihre Existenz Machthaber und Establishment heraus, führen zu Repressalien bis hin zur Folter. Sei es der Rapper im palästinensischen Flüchtlingscamp, der Metalgitarrist in Syrien, der Experimentalmusiker in Kairo, genauso wie der Liedermacher in Tunesien – sie alle versuchen vielstimmig ihren Visionen einer besseren Gesellschaft Ausdruck zu verleihen. Sie waren schon vor der arabischen Revolution da und hören danach nicht auf. Auch wenn ihre Botschaften nicht immer eindeutig sind. Auch wenn nicht mehr tausende Menschen zu ihren Liedern demonstrieren, der verhasste Präsident verschwunden ist und die Kameras abgezogen wurden.

Weitere Texte zu Subkulturen im Arabischen Raum:

Arabischer Hip Hop

Arabischer Metal

Libanesische Pop-Avantgarde

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