Wer sich durch Wien bewegt, wird eher früher als später eine Baustelle streifen. Wohnungen, Büros und U-Bahn-Stationen sprießen aus dem Boden. Doch wo entstehen in Wien die Kulturräume der Zukunft? Gebäude, die der kulturellen Bespielung dienen, folgen nicht derselben planerischen und baulichen Logik wie es Wohnräume, Bildungseinrichtungen oder infrastrukturelle Bauten tun. Aber das ist nicht naturgegeben.
Die kulturelle Nahversorgung in der Stadt und im Quartier sind mindestens genauso wichtig wie viele andere Bereiche des urbanen Alltags. In Zeiten der nahezu lückenlosen Verwertung des städtischen Bodens sind es vor allem alternative und experimentelle Räume, die der stetig wachsenden Gefahr ausgesetzt sind, ihren Platz in der Stadt zu verlieren. Der freie Immobilienmarkt wird dieses Problem nicht lösen, vielmehr verschärft und beschleunigt er die Existenzbedrohung von bestehenden und potenziell entstehenden Räumen für Kunst und Kultur. Die Verdrängung organisch wachsender Kulturräume auf politischem Wege zu verhindern, scheint das Gebot der Stunde zu sein. Jedoch gestaltet sich die Umsetzung von Lösungen schwierig, denn es sind viele Instanzen – und damit verbunden viel Zeit – nötig, um ins Handeln zu kommen.
Verplanter Boden
Tamara Schwarzmayr beobachtet das Verhältnis von Kultur und Stadtentwicklung seit vielen Jahren. Einerseits in ihrer Funktion als Vorstandsmitglied der IG Kultur Wien und andererseits bei eigenen Kulturprojekten im öffentlichen Raum sowie als Mitarbeiterin der Stadtteilarbeit der Caritas Wien, die Entwicklungsprozesse von Quartieren, aber auch von einzelnen, insbesondere geförderten Wohnbauten von der Planungs- über die Bauphase bis hin zur Belebung begleitet. »Früher standen mehr Räume und Freiflächen zur Verfügung, weil nicht dieser enorme Kostendruck auf der Stadt gelastet hat. Mittlerweile scheint alles zu Ende entwickelt. Für Kulturinitiativen ist es gar keine Option mehr, aus Neugier in andere Bezirke zu gehen, sondern es ist bereits schwierig genug die bestehenden Räume zu halten. Es gibt nur mehr wenig Spielraum für jene, die lokal aktiv werden wollen«, so Schwarzmayr.
Es scheint, als räche sich die Wiener Tradition der letzten Jahrzehnte, keine gezielte Strategie für Entstehung von und Zugang zu Kulturräumen entwickelt zu haben. Dabei geht es sowohl um Produktions-, Probe- und Experimentierräume als auch um Veranstaltungsorte und szenespezifische Freiräume. Zu lange lag der Fokus der Stadtentwicklung auf quantitativen Zielen wie einer gewissen Anzahl von Neubauwohnungen, harten Faktoren wie Kanalanschlüssen und funktionalen Verkehrskonzepten. Erst seit einigen Jahren zeigt sich ein Sinneswandel in Politik und Verwaltung, der dazu führt, sich (wieder) für die Einbeziehung von Gebäuden für Kunst und Kultur in der Stadtplanung verantwortlich zu fühlen. Nicht zuletzt aufgrund des Protests und der Reklamation mehrerer Szenen, Interessenvertretungen und Vernetzungsplattformen.
Um mehr Raum für Kultur zu schaffen, agiert die Kulturabteilung der Stadt auf mehreren Ebenen. Arne Forke, Referent im Büro der Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler, beschreibt die aktuellen Schwerpunkte folgendermaßen: »Es gibt derzeit viele Entwicklungen und Kooperationen in den Bezirken, neue Orte entstehen oder bestehende werden weiterentwickelt. Der Schlingermarkt, die Soho Studios, die Öffnung der Kirchen, Erdgeschoßzonen in Stadtentwicklungsgebieten, um nur einiges zu nennen. Sogenannte Ankerzentren werden finanziell unterstützt, um ihr Angebot und ihre dezentralen Aktivitäten zu fördern. Ein wichtiges Instrument sind Zwischennutzungen, um in Entwicklungsgebieten die Nachbarschaft kulturell einzubeziehen und Neugierde zu wecken. Die vorübergehende Nutzung einer Halle in der Nordwestbahnstraße durch das Koproduktionshaus Brut ist dafür ein wunderbares Beispiel oder auch die Probenräume im Kempelenpark.«
Wenn es um den direkten Einfluss auf die baulichen Vorhaben in neuen Stadtteilen geht, scheinen die Handlungsspielräume jedoch weiterhin eng zu sein. Forke: »Grundsätzlich kann das Kulturressort nicht einfach bestimmen, wo und wie gebaut werden soll. Wir bewegen uns hier in langfristigen, komplexen und vor allem ressortübergreifenden Abläufen. Generell gilt: wenn es um den Boden der Stadt geht, treffen sehr viele Interessen aufeinander.«
Nutzung und Netzwerk
Nun gelten Zwischennutzungen aber nicht erst seit gestern als problematisch im Kontext neoliberaler Bodenpolitik und der Bedürfnisse (sub-)kultureller Szenen. Wenn eine Zwischennutzung erfolgreich innerhalb heranwachsender Stadtteile interveniert, sollte sie dann nicht auch bleiben können? Was bleibt von der Intervention, wenn sie zwar Prozesse anstößt, aber nicht unbefristet weiterentwickelt werden kann? Und vor allem, wer entscheidet, welche Nutzung zu einem Ort passt und wie lange sie dort realisiert werden darf?
Die Künstlerin Claudia Bosse verfolgt mit dem Theatercombinat bereits seit 20 Jahren eine nomadische Praxis in Wien. Viele künstlerische Projekte wurden mit der Geschichte und Architektur der jeweiligen Spielorte entwickelt und häufig haben kostenlose Zwischennutzungen dafür den idealen Rahmen geboten. Aber selbst diese temporäre Form der Raumaneignung gestaltet sich zunehmend hürdenreicher: »Der Zugang zu Zwischennutzungen hat sich in den letzten Jahren massiv verändert und es wurde damit schwieriger, architektonisch kontextuell zu arbeiten, weil die Räume immer ökonomischer genutzt und zuletzt auch von politischer Seite besetzt werden.«
Die Entscheidung, wer eine Zwischennutzung verwaltet oder was zu einem Ankerzentrum ausgebaut wird, ist selten das Ergebnis öffentlicher Auswahlverfahren, sondern scheint auf anderen Ebenen vonstatten zu gehen. Dabei zeigt sich die Logik, bereits gut aufgestellte Institutionen im kulturellen Feld mit weiteren Projekten zu betreuen. Nachvollziehbar im Sinne von Berechenbarkeit, aber nicht nachvollziehbar im Sinne von Transparenz und Chancengleichheit. Oder wie Bosse es formuliert: »Wenn Zwischennutzungen politisch zentralisiert und an bestehende Strukturen angeknüpft werden, gibt es für kleine, künstlerische Initiativen wenig Möglichkeiten.«
Auch Tamara Schwarzmayr sieht den Weg zum Ziel der dezentralen und leicht zugänglichen Kultur sehr kritisch: »Es ist ja nicht nur falsch, an bestehende Infrastruktur anzuknüpfen, aber es kann nicht sein, dass von politischer Seite im Alleingang ausgewählt wird, welche Orte zu Ankerzentren auserkoren werden. Hier äußert sich ein zentralisierter Zugang und es wird zentralisiert organisiert, was dezentral sein soll. Bei diesem Vorgehen ist es schwierig zu wissen, wo Mitgestaltung möglich ist oder man sich als kulturelle*r Akteur*in einbringen kann.«
Um auf die Bedürfnisse der Kulturszenen Wiens – vor allem jene der performativen und darstellenden Künste – aufmerksam zu machen und Diskurse nach innen und außen voranzutreiben, gründete sich 2017 die Initiative Wiener Perspektive, in deren Arbeitsgruppe zu »Spaces« auch Claudia Bosse von Beginn an tätig war. Damals wie heute bemängelt die Wiener Perspektive, dass es kaum Räume in Wien gibt, die sich als angemessene Orte eignen, um langfristig eine transdisziplinäre Praxis zu verwirklichen. Dezentral und temporär genutzte Räume bieten zwar die Möglichkeit, sich auf unterschiedliche Kontexte einzulassen und immer wieder eine andere Öffentlichkeit zu erreichen, aber die Szene ist eben genauso von festen Zentren abhängig, die Kontinuität schaffen und wo alle Fäden zusammenlaufen.
»Das Theater im Künstlerhaus in der Innenstadt war so ein Ort für die Performance-Szene«, meint Bosse, »und es war ein herber Verlust eines historisch wichtigen Zentrums, das allzu leichtfertig aus der Hand gegeben wurde. Vor allem weil es fast unmöglich scheint neue Orte und Konzepte zu verwirklichen. Für das Alternative ist kein Platz und außerdem herrscht das Bild von Freischaffenden als unorganisierte Personen, denen zu wenig vertraut wird. Wir werden mit Argumenten der demokratischen Legitimation ausgebremst, während Raumagenden anderweitig und häufig informell beauftragt werden. Dabei können Künstler*innen diese Arbeit, also Räume betreiben, kuratieren und Visionen entwickeln, umsetzen. Viele Ideen und Argumente der Szene werden gerne von der Politik übernommen, aber wir erhalten selten die Möglichkeit, selbst in die Gestaltung und Verantwortung zu kommen.«
Es braucht also einerseits verbindende Zentren, flexible Satelliten und temporär nutzbare Räume und andererseits eine transparente Erarbeitung der Bedarfe und Beauftragungen. Doch wo und wie können diese Prozesse organisiert werden?
Kommt Zeit, kommt Tat
Für komplexe Fragen braucht die Stadt den Mut, neue Herangehensweisen auszuprobieren und mit alten Traditionen zu brechen. Möglicherweise beweisen jüngste strukturelle Veränderungen, dass die Stadt bereits neue Wege einschlägt. Seit Jänner 2021 ist die MA 18 um ein Referat reicher, das sich transdisziplinären urbanen Themen widmen soll. Marlies Fellinger ist stellvertretende Referatsleiterin und betreut unter anderem die Bereiche Zwischen- und Mehrfachnutzung sowie Kultur und Stadtentwicklung. Fellinger hat also die Aufgabe, sich mit Querschnittsthemen zu befassen und dort Kommunikationskanäle herzustellen, wo viele Stellen der Stadt in gemeinsamen Prozessen involviert sind.
Ihr Hauptbetätigungsfeld bleiben alle Varianten von Zwischennutzungen, wodurch sie viele Bereiche des Städtebaus hautnah mitverfolgen kann: »Ich beobachte bereits seit einiger Zeit einen Sinneswandel in der Planung, nämlich das zunehmende Bewusstsein für eine ganzheitliche Herangehensweise, die anerkennt, dass es um mehr geht als nur darum, Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Die Kultur spielt bei fast allen Bereichen der Stadtentwicklung eine sehr wichtige Rolle und soll zukünftig dezentral und wohnortnah in der ganzen Stadt verteilt werden.«
Die Weiter- und Neuentwicklung von mehreren Zentren im gesamten Stadtgebiet ist eine wesentliche Zielsetzung der Stadtplanung und wurde mit dem sogenannten Fachkonzept »Polyzentrales Wien« im Stadtentwicklungsplan 2025 formuliert. Vor allem in neu entstehenden Gebieten sollen funktionierende Quartierszentren für lebendige Grätzln sorgen. Gewisse Vorgangsweisen hätten sich dabei bewährt, erklärt Fellinger: »Ein Ausgangspunkt für Kultur sind alte Bestandsgebäude, die das Potenzial haben, als kulturelles Zentrum zu dienen. Zwei Orte mit viel Potenzial sind das Brut Nordwest und die Inventarhalle beim Alten Landgut.«
Doch wo können sich Raumsuchende informieren, wo und wie finden Angebot und Nachfrage zwischen Stadt und Kulturszene zusammen? Fellinger: »Im Bereich der Zwischennutzungen werden viele Angebote über die Bezirke und regionale Stellen kommuniziert und natürlich sind die Kreativen Räume Wien die primäre Adresse für Interessierte. Aber im Bereich der Kommunikation ist definitiv noch Luft nach oben, wenn es darum geht, wirklich alle zu erreichen, die Räume suchen und auch langfristig betreiben wollen.«
Dem vorangestellt ist weiterhin die Frage, wie konkret dafür gesorgt werden kann, dauerhaft nutzbare Kulturräume überhaupt erst zu erbauen und zugänglich zu machen. Im Sinne transparenter Auswahlverfahren und durchdachter Baupläne, die auf die Bedürfnisse diverser künstlerischer Szenen zugeschnitten sind und eben kein Ablaufdatum haben. Fellinger sieht ein großes Problem in der divergierenden Rhythmik innerhalb dieser Materie: »Eine der großen Schwierigkeiten ist, dass die Zeithorizonte von Kulturszene und Stadtplanung sehr weit auseinandergehen. Die Kultur ist viel rascher am Handeln, und viele suchen jetzt akut Räume, während die Stadtplanung in Horizonten von fünf bis zehn Jahren denkt. Hier braucht es noch Lösungen, um sich in der Mitte treffen zu können.«
Erst einbeziehen, dann einziehen
Nach der Einschätzung von Tamara Schwarzmayr braucht es in jedem Falle auch mehr Einbeziehung von Akteur*innen der Kultur in die Stadtplanung: »Demnächst steht die Konzeption des nächsten Stadtentwicklungsplans an und es sollten unbedingt Leute aus der Kultur Teil dieser Planungsprozesse sein. So könnte gemeinsam erarbeitet werden, welche Bedingungen Räume erfüllen sollen, auch in Hinblick auf Förderlogiken und Vorgaben, innerhalb derer sie auf lange Sicht bestehen müssen. Was genau braucht eine Galerie? Was braucht ein Club? Diese konkrete Ausarbeitung ist noch nicht im Planerischen angekommen und es bestehen dahingehend auch noch Hemmschwellen bei Bauträgern und technischem Personal, die dringend abgebaut werden müssen.«
Das Bekenntnis, sich nun auch eingehender mit disziplinenübergreifenden urbanen Themen auseinanderzusetzen und der Kultur in der Stadtentwicklung mehr Gewicht zu geben, gibt Hoffnung auf eine kulturraumreiche Zukunft Wiens. Allerdings wäre es von Vorteil, wenn die Mühlen der Stadt einen Gang zulegten und noch mehr partizipative Planungsabläufe im Rathaus Einzug hielten. Vor allem braucht es also den politischen Willen und, wie Claudia Bosse zusammenfasst, »eine beherzte Dedikation zur Integration künstlerischer Visionen und Expertise statt bits and pieces in der Kulturraumpolitik.«
Mag.a Magdalena Augustin forscht im Rahmen ihrer Doktorarbeit am Interdisciplinary Centre for Urban Culture and Public Space der TU Wien zu räumlichen Gestaltungsprozessen in Techno-Clubs im deutschsprachigen Raum. Außerdem ist sie seit 2017 Vorstandsmitglied der IG Kultur Wien und schon viele Jahre als Veranstalterin und DJ mit dem Kollektiv Gassen aus Zucker in Wien und international tätig.