»Wir müssen anders darüber nachdenken, wie wir als Gesellschaft durch so eine Krise kommen« – Wiener Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler im Interview zu Corona und zur Zeit danach

Was wird der Kulturbranche von der Krise bleiben? Stadträtin Veronica Kaup-Hasler über Kultur als öffentliches Gut, das Problem mit quantifizierendem Effizienzdenken und eine Bedrohung namens Sparkaket, gegen die sie ankämpfen will.

© Johannes Kernmayer

Wie war das letzte Jahr für Sie – aus der Perspektive als Politikerin und als jemand, die mit vielen Künstler*innen und Kulturinstitutionen in Kontakt ist?

Veronica Kaup-Hasler: Es war unbestritten das schwierigste und herausforderndste Jahr für die Kulturbranche. Noch nie wurde so intensiv an Konzepten gearbeitet, Öffentlichkeit zu erreichen. Ob im analogen Bereich, wo man bemüht war, durch Hygienekonzepte einen sicheren Konsum von Kunst und Kultur zu ermöglichen. Oder mit dem Versuch, bestimmte Inhalte in den digitalen Raum zu verlagern.

Dabei haben wir erkannt – und da kann man durchaus von einem positiven Effekt sprechen – wie sehr wir das Zusammenkommen vermissen, den sozialen Raum, den Kunst und Kultur darstellen. Dieses Bedürfnis nach Kunst und Kultur ist uns allen als Gesellschaft, den Kulturschaffenden, aber auch dem Publikum, klarer denn je geworden. Das hat auch einen Schub gebracht in der Erkenntnis, wie vulnerabel dieser Bereich ist. Diesen Bereich zu stärken und resilienter zu machen, ist jetzt der richtige Schritt. Das beginnt bei konkreten baulichen Investitionen und Renovierungsarbeiten und geht bis hin zu strukturellen Veränderungen. Wir haben erkannt, dass selbst große Institutionen oft prekäre Beschäftigungsverhältnisse haben, weil sie seit Jahrzehnten unterdotiert waren. Die Pandemie hat klar gezeigt, dass der öffentlichen Hand hier eine noch viel größere Verantwortung zukommt.

Es ist eindeutig, dass der Neoliberalismus, der Kapitalismus, wie wir ihn zuvor als Selbstverständlichkeit wahrgenommen haben, an ein Ende gekommen ist, wenn es um öffentliches Gut geht. In allen Bereichen – ob im Gesundheitssektor, der Wasser- oder Müllentsorgung, im Bereich der Bildung oder eben auch der Kultur. In diesem Erkenntnisgewinn für die Gesellschaft, liegt die große Chance, die richtigen Hebel für die Zukunft zu stellen.

Sie sehen also auch eine lebendige Kulturszene als öffentliches Gut?

Absolut, ja. Die Kultur erwirtschaftet Milliarden an Umsatz in diesem Land. Darüber hinaus ist sie für den Tourismus oder für Betriebsansiedlungen internationaler Firmen ein wesentlicher Attraktionshebel. Selbst wenn man nicht aktiv Kultur konsumiert, kreiert das eine Atmosphäre in einer Stadt und ist ein enormer Imagegewinn für den Standort.

Und wenn man sich anschaut, was das allein in diesem Lockdown bedeutet hat: Man stelle sich vor, wir hätten keine Möglichkeit, Musik zu hören, Bücher zu lesen, Filme zu schauen – diese Isolation, in der wir uns alle befinden, wäre nicht auszuhalten. Viele brauchen Kultur wie einen Bissen Brot, weil wir uns eben nicht nur von Nahrungsmitteln ernähren, sondern weil wir auch Orientierungspunkte brauchen. Wir brauchen Kunst und Kultur, um die zukünftigen Herausforderungen überhaupt zu begreifen und um die richtigen Fragen zu stellen, Widersprüche aufzuzeigen, permanent am Gelingen eines sozialen Gemeinwesens zu arbeiten. Und wir brauchen auch die Widerstandskraft, die vom kulturellen Feld ausgeht.

Würden Sie sagen, die Zeit nach Corona ist auch die Zeit nach dem Wirtschaftsmodell oder dem Gesellschaftmodell rund um Kapitalismus und Neoliberalismus, wie wir es bisher kannten?

Ich glaube, wir müssen uns da von ganz, ganz vielen Dingen, die wir sehr unkritisch als gegeben hingenommen haben, verabschieden. Nachdem Ideologien in ihrer herkömmlichen Form auch abgedankt haben, müssen wir uns in diesen Punkten neu erfinden. Wir müssen auf eine andere Art und Weise über Gemeinschaft nachdenken, über das Gelingen von Gemeinschaft. Wir müssen anders darüber nachdenken, wie wir als Gesellschaft durch so eine Krise kommen. Wir müssen anders darüber nachdenken, was Gerechtigkeit heißt, gerechter Zugang zur Bildung oder zu Kunst und Kultur.

Und da ist Steuergerechtigkeit ein ganz großes Thema. Auch wenn ich jetzt keine Expertin bin, ist es klar, dass es nicht sein kann, dass Europa jährlich Milliarden Euro verlorengehen, schlicht und ergreifend indem akzeptiert wird, dass es Großkonzerne gibt, die ihrer Pflicht gegenüber der Gesellschaft nicht nachkommen. Oder auch Steuerflüchtlinge. Das einfach als gegeben und unveränderlich hinzunehmen, war immer schon ein Fehler und unverantwortlich, auch gegenüber künftige Generationen; genau wie die scheinbare Unveränderbarkeit unserer Asylgesetze. Natürlich können wir als Gesellschaft etwas tun. Das müssen wir von der Bundespolitik einfordern. Und da sehe ich aktuell schon eine ganz große Chance. Insofern ist die Bilanz nicht nur schrecklich, aber auch. (lacht)

Sie haben zuvor von Hebeln gesprochen, bei denen man nun ansetzen könnte. An welche denken sie konkret? Wo kann die Politik den Bürger*innen etwas bereitstellen, um gemeinsam eine Entwicklung zu starten?

Ich glaube, dass dieser Dialog breiter geführt werden muss. Man darf die Kultur – gegen den Trend der Zeit – nicht aus einem Effizienzdenken, rein monetär betrachten. Es gibt einen Mehrwert, den Kunst und Kultur schaffen, einen Mehrwert, der für jeden Einzelnen persönlich, aber auch für die Gesellschaft wichtig ist. Ein gutes Beispiel war die Reaktion der Bundesmuseen, als es beim ersten Lockdown plötzlich hieß, sie könnten öffnen. Das wollten sie wegen der fehlenden Touristen ganz und gar nicht. In dem Moment war mir klar, wie falsch hier gedacht wird. Die Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer haben Angst vor ihren Aufsichtsräten, vor den Gremien, die einfach nur anhand von Ticketverkäufen urteilen. Das ist ein Wirtschaftsdenken, das in diesem Punkt plötzlich völlig obsolet wird.

Diese Museen sind auch dazu da, der Bevölkerung als Wissens- und Erfahrungsräume zu dienen. Es gibt zwei Millionen Menschen in dieser Stadt, die zu einem Großteil noch gar nicht abgeholt wurden. Ich weigere mich zu glauben, dass es ausschließlich die Touristinnen und Touristen sind, die das kulturelle Leben aufrechterhalten. Da gibt es viele Szenen, viele Menschen in dieser Stadt, die ein Anrecht haben und die auch erstmals angesprochen werden können. Wir müssen mehr Geld in die Vermittlung stecken, in Initiativen, die sich darum kümmern, Menschen ungeachtet ihrer Herkunft, ungeachtet ihres sozialen Status, ungeachtet ihrer finanziellen Möglichkeiten, einzuladen. Das halte ich zukünftig für extrem wichtig.

Bühnen sollten auch nicht wegen der Besucherzahlen in eine Art populistische Programmierung getrieben werden. Der inhaltliche Anspruch bleibt dabei sukzessive auf der Strecke, das notwendige Experimentieren, die mutige Auswahl von Texten fürs Theater, zeitgenössische Musik. Das sind, wenn man es rein quantifiziert sieht, immer Nischen. Und wenn man in diesem quantifizierenden Effizienzdenken bleibt, dann ist der Sog hin zum Mainstream immer größer. Ich beharre aber darauf, dass man dieses Feld nur weiterbringt, wenn man konsequent auch Neues zulässt, neue Stimmen, neue Texte, neue Töne. Glücklicherweise gibt es jedoch dieses Subversive in der Kunst.  

Es geht hier zunehmend auch um das Thema Räume. Es gibt zu wenig Raum für das Experimentieren. Das ist eine weitere Säule, wo wir etwas tun müssen. Können wir zum Beispiel gegebenen Leerstand kulturell nutzen? An dem muss sukzessive gearbeitet werden und dafür braucht es Geld. Deswegen müssen die Kulturbudgets auch in Zukunft steigen. Aber wenn wir die Frage, woher das Geld kommt, wie ich eingangs schon gesagt habe, größer und radikaler denken und einfordern, dass alle ihren Teil zur Gesellschaft beitragen, ist das nicht unmöglich.

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