Der fünfte Tag des Dokumentarfilmfestivals Ethnocineca berichtete von ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen auf Frachtschiffen, nahm uns mit in den ecuadorianischen Dschungel und zeigte die polnischen Arbeiter*innenproteste des Jahres 1970.
Montag, 16. Mai
Vor dem Eingang des Kino De France stehen kleine Gruppen junger Menschen und unterhalten sich. Bald werden sich die Türen zu Saal eins öffnen und die Besucher*innen für Runde zwei der diesjährigen Ethnocineca Student Shorts Award (ESSA) einlassen. Aufregung und Vorfreude liegen in der Luft, denn für viele junge Filmemacher*innen ist es pandemiebedingt eine der ersten Screenings überhaupt. Die letzten zwei Jahre haben ihnen einen holprigen Start in die Branche beschert.
Moderne Sklaverei auf Frachtschiffen
Ohrenbetäubendes Grollen und schrilles Piepsen – die Geräuschkulisse des Frachtschiffes überwältigt schon bevor links und rechts im Bild die massiven Wände aus unzähligen aufeinandergestapelten Containern sichtbar werden. »Sealand« erzählt von schwerer körperlicher Arbeit, den ständigen rassistischen Herabwürdigungen und den ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen von Frachtschiffarbeiter*innen. »You are a prisoner with a salary«, beschreibt ein Filipino seinen Alltag. Die hohe Arbeitslosigkeit im Heimatland zwingt die Männer, unter solch missbräuchlichen Umständen zu leben. Einer erzählt von seiner todkranken Frau, die er nicht besuchen kann denn: »Who’s gonna pay for the hospital if i quit on ship?« Man sieht die Verzweiflung in den Augen des Mannes. Erst bricht er in schrilles Gelächter, dann in Tränen aus.
Bilder von der Arbeit an Bord untermalen die grausamen Berichte der Filipinos. Man sieht die Arbeiter beim Frachtverladen, beim Säubern von Kesseln und beim Metallschweißen in der Werkstatt. Einziger Farbfleck im Bild sind die gelben und orangenen Warnwesten der Männer. »Everyone in this room uses the work of these people«, sprechen die Filmemacher Paul Scholten, Conrad Winkler und Matthäus Wörle im anschließenden Q&A die Mitschuld der Gesellschaft am Leid dieser Arbeiter an. Über 90 Prozent des Welthandels werden über solche Frachtschiffe abgewickelt. Gerade wegen dieser Schuld sei es den Regisseuren wichtig gewesen, ausschließlich die Arbeiter sprechen zu lassen.
Tischtennis, Pilates und Gitarrenmusik
Die Ausbeutung der Frachtschiffarbeiter noch schwer im Magen spürend, lockert »Storgetnya« mit Skurrilität auf. Regisseur Hovig Hagopian zeichnet den Alltag einer unterirdischen Asthma-Kuranstalt in Armenien nach. Tischtennis, Pilates und die Gitarrenmusik bringen Unterhaltung in die kargen Felsräume. Für Atem- und Streckübungen treffen sich die Patient*innen auf einer Wegkreuzung im unterirdischen Tunnelsystem. Ob es gerade Morgen oder Abend ist, ist schwer zu sagen, denn 230 Meter unter der Erde verliert die Tageszeit jegliche Bedeutung: Im eigenen »Zimmer« ins Handy starren, kann man zu jeder Uhrzeit.
Der Film lebt von der Skurrilität der Bilder. In einem Wartezimmer über der Erde steigt ein kleiner Junge von vielleicht zwölf Jahren mit gelangweiltem Blick und seiner Gitarre auf dem Rücken in einen Aufzug. Als sich die Türen des Lifts wieder öffnen, wird er von einer Ärztin in weißem Mantel empfangen. Er steht in einer Felshöhle, die nur durch ein paar Leuchtstoffröhren erhellt wird.
Beim gemeinsamen Kartenspielen unterhalten sich drei Angestellte der Kuranstalt nüchtern über Depressionen: »Maybe it’s because of the missing sunlight«, überlegt eine Frau. Der Alltag in der ehemaligen Salzmine erinnert an Parallelwelten aus Science-Fiction-Romanen. Licht aus der Leuchtstoffröhre, das endlose Klackern der aufprallenden Tischtennisbälle und gelegentliche Gitarrenakkorde. Schritte auf dem Kiesboden hallen noch lange nach.
Leben im Einklang mit der Natur
Zum Abschluss holt uns Regisseurin Tatiana Lopez aus der unterirdischen Welt hinein ins Amazonasgebiet. »Living Forest – Naku Ikinyu«, der im De France seine Österreichpremiere feiert, porträtiert mehrere Generationen der im ecuadorianischen Dschungel lebenden Sapara-Frauen. Das Leben im Einklang mit der Natur, Verbundenheit zu allen Lebewesen und Spiritualität durch Träume stellen die Grundsätze der Sapara dar. »It’s not just human to have a spirit«, fasst Lopez den Glauben der Sapara zusammen.
Zwischen beeindruckenden Unterwasserbildern und eindringlichen Gesichtsaufnahmen hält Lopez tagebuchähnlich ihre Erlebnisse und Erkenntnisse fest: »I wanted to make this a collaborative film, without imposing on the Sapara«, erklärt sie im Filmtalk.
Der älteren Generation der Sapara merkt man die Auswirkungen der Kolonialisierung durch die Weißen noch stark an. Während sie ihre traditionellen Gewänder gegen klassisch westliche Kleidung ausgetauscht haben, formiert sich unter den Jüngeren eine neue Bewegung: Sie sind stolz auf ihre Kultur und wollen dies auch zeigen. Auf Social Media präsentieren sie der Welt die Lebensweise der Sapara und kämpfen gegen neuerliche Versuche an, das Amazonasgebiet für wirtschaftliche Zwecke auszubeuten.
»Thank you everyone for being here, it’s such a good time to finally show the film in person«, bedankt sich Regisseurin Tatiana Lopez nach dem Screening der Kurzfilme und spricht damit aus, was alle spüren: Erleichterung und Freude darüber, dass Kino endlich wieder so möglich ist, wie es das vor der Pandemie war.
Zahnspange und Zigarette
Im De France geht um 19 Uhr das Licht für »Alice + Barbara« aus. Ein zahnbespangtes Mädchen sitzt im Wald und raucht. Die Kamera wechselt zwischen dem besorgten Ausdruck im Gesicht des Mädchens und ihren nervösen Fingern, die mit der schwelenden Zigarette spielen. Nach jedem Zug zündet sie die noch glühende Spitze wieder an, fast so, als würde sie nicht daran ziehen, sondern sie ausblasen.
»Alice + Barbara« ist eine Langzeitdokumentation zweier Schwestern. Der Film erzählt von den Sorgen, die das Erwachsenwerden mit sich bringt, von Identitätsfindung und Abhängigkeit. Während sich die 18-jährige Alice nach dem Schulabschluss auf ihre Führerscheinprüfung vorbereitet, beginnt die drei Jahre jüngere Barbara gerade an der Highschool. Zwischen Kleiderhaufen am Boden und Popkultur an den Wänden leben die zwei Schwestern neben- und miteinander.
Über knapp vier Jahre begleitete Camille Holtz das Geschwisterpaar. Die Regisseurin zeichnet den Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein zwischen kühnen Zukunftsträumen und Ratlosigkeit, kindlichem Übermut und Melancholie. Das Zimmer der beiden Schwestern verwandelt sich parallel zu der Entwicklung, die seine Bewohnerinnen durchleben: Von den mit Plakaten der Lieblingssänger*innen übersäten rosa Kinderzimmerwänden hin zu dem dezent eingerichteten Raum zweier junger Erwachsener.
In diesem unaufgeregten Geschwisterporträt nimmt Camille Holtzs Kamera den Platz einer kommentarlosen Beobachterin ein. Alices Waldspaziergang nach einer Jobabsage wird nur anhand dunkler Nahaufnahmen ihres Gesichts und lauten Regengeprassels nachgezeichnet. Unbewegte Standbilder intensivieren die atmosphärische Wirkung der Geräusche und lassen die Zuseher*innen unmittelbar an Alices Gefühlswelt teilhaben.
Streik im polnischen Gdansk
Zum Abschluss des heutigen Festivaltages geht es für »1970« hinüber in den großen Saal des Votiv Kinos. Die Leute, die vor dem Eingang warten, unterhalten sich auf Polnisch und Englisch. Katja Seidel eröffnet das Screening: »Unfortunately filmmaker Tomasz Wolski didn’t make it today«, sagt sie. Dafür sehe sie einige bekannte Gesichter aus dem Polnischen Institut Wien im Publikum.
Der Saal ist gut gefüllt. Kein Wunder denn »1970« ist ein Augen- und Ohrenschmaus. Das Licht geht aus und die Leinwand bleibt noch einige Zeit dunkel, während bereits rhythmisches Marschieren und dumpfe Trommelschläge zu hören sind: »We demand 50 percent of wage increase«, ist auf vorbeifahrenden Straßenbahnen, Plakaten und Mauern zu lesen. Die polnische Hafenstadt Gdansk ist im Streik. Im Dezember des Jahres 1970, werden die Preise für Lebensmittel um bis zu 38 Prozent angehoben, was landesweite Straßenproteste zur Folge hat.
Wolskis Dokumentation illustriert den Arbeiter*innen-Aufstand von 1970 anhand von Archivmaterial: Telefongespräche zwischen Entscheidungsträgern und Videoaufnahmen der zerstörten Stadt werden durch Stop-Motion-Sequenzen mit Plastilinfiguren ergänzt. Zusammen bilden sie ein gleichzeitig bedrohliches wie auch unterhaltsames Gesamtkunstwerk. »1970« gewährt Einblick in den rüpelhaften bis erniedrigenden Umgangston zwischen Vorgesetzten und Befehlsempfänger*innen, beleuchtet die hierarchischen Strukturen innerhalb der militärischen Politik und zeigt die Mechanismen des Krieges auf. »Just beat the crap out of them, got it?«, brüllt einer der Politiker in den Telefonhörer. Letztendlich zeigt der Film aber auch, wie viel Macht das Volk hat, wenn es sich nur zusammenschließt. Der Streik von Dezember 1970 hält acht Tage, bevor die polnischen Streitkräfte endgültig die Oberhand gewinnen.
Das Festival Ethnocineca zeigt noch bis 19. Mai 2022 internationalen ethnografischen Dokumentarfilm im Votiv Kino sowie im De France.
Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Schreibstipendiums, das die Ethnocineca gemeinsam mit The Gap vergeben hat. Weitere Einträge in unser Ethnocineca-Festivaltagebuch findet ihr hier.