Festivaltagebuch Ethnocineca 2022, Tag 5: Aufwachsen, Ausbeutung und Aufstand

Der fünfte Tag des Dokumentar­film­festivals Ethnocineca berichtete von ausbeute­rischen Arbeits­verhältnissen auf Fracht­schiffen, nahm uns mit in den ecuadoria­nischen Dschungel und zeigte die polnischen Arbeiter*innen­proteste des Jahres 1970.

© »Sealand« von Paul Scholten, Conrad Winkler und Matthäus Wörle

Montag, 16. Mai

Vor dem Eingang des Kino De France stehen kleine Gruppen junger Menschen und unterhalten sich. Bald werden sich die Türen zu Saal eins öffnen und die Besucher*innen für Runde zwei der diesjährigen Ethnocineca Student Shorts Award (ESSA) einlassen. Aufregung und Vorfreude liegen in der Luft, denn für viele junge Filme­macher*innen ist es pandemie­bedingt eine der ersten Screenings überhaupt. Die letzten zwei Jahre haben ihnen einen holprigen Start in die Branche beschert.

Moderne Sklaverei auf Frachtschiffen

Ohrenbetäubendes Grollen und schrilles Piepsen – die Geräusch­kulisse des Frachtschiffes überwältigt schon bevor links und rechts im Bild die massiven Wände aus unzähligen aufeinander­gestapelten Containern sichtbar werden. »Sealand« erzählt von schwerer körperlicher Arbeit, den ständigen rassistischen Herab­würdigungen und den ausbeu­terischen Arbeits­verhältnissen von Frachtschiff­arbeiter*innen. »You are a prisoner with a salary«, beschreibt ein Filipino seinen Alltag. Die hohe Arbeits­losigkeit im Heimatland zwingt die Männer, unter solch miss­bräuchlichen Umständen zu leben. Einer erzählt von seiner tod­kranken Frau, die er nicht besuchen kann denn: »Who’s gonna pay for the hospital if i quit on ship?« Man sieht die Verzweiflung in den Augen des Mannes. Erst bricht er in schrilles Gelächter, dann in Tränen aus.

Bilder von der Arbeit an Bord unter­malen die grau­samen Berichte der Filipinos. Man sieht die Arbeiter beim Fracht­verladen, beim Säubern von Kesseln und beim Metall­schweißen in der Werkstatt. Einziger Farbfleck im Bild sind die gelben und orangenen Warn­westen der Männer. »Everyone in this room uses the work of these people«, sprechen die Filme­macher Paul Scholten, Conrad Winkler und Matthäus Wörle im anschließenden Q&A die Mitschuld der Gesell­schaft am Leid dieser Arbeiter an. Über 90 Prozent des Welt­handels werden über solche Fracht­schiffe abgewickelt. Gerade wegen dieser Schuld sei es den Regisseuren wichtig gewesen, ausschließlich die Arbeiter sprechen zu lassen.

Tischtennis, Pilates und Gitarrenmusik

Die Ausbeutung der Fracht­schiff­arbeiter noch schwer im Magen spürend, lockert »Storgetnya« mit Skurrilität auf. Regisseur Hovig Hagopian zeichnet den Alltag einer unterirdischen Asthma-Kuranstalt in Armenien nach. Tischtennis, Pilates und die Gitarren­musik bringen Unter­haltung in die kargen Felsräume. Für Atem- und Streck­übungen treffen sich die Patient*innen auf einer Weg­kreuzung im unter­irdischen Tunnel­system. Ob es gerade Morgen oder Abend ist, ist schwer zu sagen, denn 230 Meter unter der Erde verliert die Tageszeit jegliche Bedeutung: Im eigenen »Zimmer« ins Handy starren, kann man zu jeder Uhrzeit.

© »Storgetnya« von Hovig Hagopian / La Fémis

Der Film lebt von der Skurrilität der Bilder. In einem Warte­zimmer über der Erde steigt ein kleiner Junge von vielleicht zwölf Jahren mit gelang­weiltem Blick und seiner Gitarre auf dem Rücken in einen Aufzug. Als sich die Türen des Lifts wieder öffnen, wird er von einer Ärztin in weißem Mantel empfangen. Er steht in einer Felshöhle, die nur durch ein paar Leucht­stoff­röhren er­hellt wird.

Beim gemeinsamen Karten­spielen unterhalten sich drei Angestellte der Kuranstalt nüchtern über Depressionen: »Maybe it’s because of the missing sunlight«, überlegt eine Frau. Der Alltag in der ehemaligen Salzmine erinnert an Parallel­welten aus Science-Fiction-Romanen. Licht aus der Leucht­stoff­röhre, das endlose Klackern der aufprallenden Tisch­tennis­bälle und gelegent­liche Gitarren­akkorde. Schritte auf dem Kiesboden hallen noch lange nach.

Kino De France in der Dämmerung (Foto: Helena Peter)

Leben im Einklang mit der Natur

Zum Abschluss holt uns Regisseurin Tatiana Lopez aus der unter­irdischen Welt hinein ins Amazonas­gebiet. »Living Forest – Naku Ikinyu«, der im De France seine Österreich­premiere feiert, porträtiert mehrere Generationen der im ecuadorianischen Dschungel lebenden Sapara-Frauen. Das Leben im Einklang mit der Natur, Verbunden­heit zu allen Lebewesen und Spiritualität durch Träume stellen die Grundsätze der Sapara dar. »It’s not just human to have a spirit«, fasst Lopez den Glauben der Sapara zusammen.

Zwischen beein­druckenden Unter­wasser­bildern und eindring­lichen Gesichts­aufnahmen hält Lopez tagebuch­ähnlich ihre Erlebnisse und Erkenntnisse fest: »I wanted to make this a collaborative film, without imposing on the Sapara«, erklärt sie im Filmtalk.

© »Living Forest – Naku Ikinyu« von Tatiana Lopez

Der älteren Generation der Sapara merkt man die Auswirkungen der Kolonialisierung durch die Weißen noch stark an. Während sie ihre traditionellen Gewänder gegen klassisch westliche Kleidung ausge­tauscht haben, formiert sich unter den Jüngeren eine neue Bewegung: Sie sind stolz auf ihre Kultur und wollen dies auch zeigen. Auf Social Media präsentieren sie der Welt die Lebens­weise der Sapara und kämpfen gegen neuerliche Versuche an, das Amazonas­gebiet für wirt­schaftliche Zwecke auszubeuten.

»Thank you everyone for being here, it’s such a good time to finally show the film in person«, bedankt sich Regisseurin Tatiana Lopez nach dem Screening der Kurzfilme und spricht damit aus, was alle spüren: Erleich­terung und Freude darüber, dass Kino endlich wieder so möglich ist, wie es das vor der Pandemie war.

Zahnspange und Zigarette

Im De France geht um 19 Uhr das Licht für »Alice + Barbara« aus. Ein zahn­bespangtes Mädchen sitzt im Wald und raucht. Die Kamera wechselt zwischen dem besorgten Ausdruck im Gesicht des Mädchens und ihren nervösen Fingern, die mit der schwelenden Zigarette spielen. Nach jedem Zug zündet sie die noch glühende Spitze wieder an, fast so, als würde sie nicht daran ziehen, sondern sie ausblasen.

»Alice + Barbara« ist eine Langzeit­dokumentation zweier Schwestern. Der Film erzählt von den Sorgen, die das Erwachsen­werden mit sich bringt, von Identitäts­findung und Abhängig­keit. Während sich die 18-jährige Alice nach dem Schul­abschluss auf ihre Führer­schein­prüfung vorbereitet, beginnt die drei Jahre jüngere Barbara gerade an der High­school. Zwischen Kleider­haufen am Boden und Popkultur an den Wänden leben die zwei Schwestern neben- und miteinander.

© »Alice + Barbara« von Camille Holtz

Über knapp vier Jahre begleitete Camille Holtz das Geschwister­paar. Die Regisseurin zeichnet den Übergang von der Kindheit zum Erwachsen­sein zwischen kühnen Zukunfts­träumen und Ratlosig­keit, kindlichem Übermut und Melancholie. Das Zimmer der beiden Schwestern verwandelt sich parallel zu der Entwicklung, die seine Bewohnerinnen durchleben: Von den mit Plakaten der Lieblings­sänger*innen übersäten rosa Kinder­zimmer­wänden hin zu dem dezent eingerichteten Raum zweier junger Erwachsener.

In diesem unaufgeregten Geschwister­porträt nimmt Camille Holtzs Kamera den Platz einer kommentar­losen Beobachterin ein. Alices Wald­spaziergang nach einer Jobabsage wird nur anhand dunkler Nah­auf­nahmen ihres Gesichts und lauten Regen­geprassels nachgezeichnet. Unbewegte Stand­bilder intensivieren die atmosphärische Wirkung der Geräusche und lassen die Zuseher*innen unmittelbar an Alices Gefühls­welt teilhaben.

Ethnocineca-Besucher*innen im Votiv Kino (Foto: Helena Peter)

Streik im polnischen Gdansk

Zum Abschluss des heutigen Festival­tages geht es für »1970« hinüber in den großen Saal des Votiv Kinos. Die Leute, die vor dem Eingang warten, unterhalten sich auf Polnisch und Englisch. Katja Seidel eröffnet das Screening: »Unfortunately filmmaker Tomasz Wolski didn’t make it today«, sagt sie. Dafür sehe sie einige bekannte Gesichter aus dem Polnischen Institut Wien im Publikum.

Katja Seidl bei der Anmoderation von »1970« (Foto: Helena Peter)

Der Saal ist gut gefüllt. Kein Wunder denn »1970« ist ein Augen- und Ohren­schmaus. Das Licht geht aus und die Leinwand bleibt noch einige Zeit dunkel, während bereits rhythmisches Marschieren und dumpfe Trommel­schläge zu hören sind: »We demand 50 percent of wage increase«, ist auf vorbei­fahrenden Straßen­bahnen, Plakaten und Mauern zu lesen. Die polnische Hafen­stadt Gdansk ist im Streik. Im Dezember des Jahres 1970, werden die Preise für Lebens­mittel um bis zu 38 Prozent angehoben, was landes­weite Straßen­proteste zur Folge hat.

»1970« von Tomasz Wolski

Wolskis Dokumentation illustriert den Arbeiter*innen-Aufstand von 1970 anhand von Archiv­material: Telefon­gespräche zwischen Entscheidungs­trägern und Video­aufnahmen der zerstörten Stadt werden durch Stop-Motion-Sequenzen mit Plastilin­figuren ergänzt. Zusammen bilden sie ein gleichzeitig bedrohliches wie auch unterhaltsames Gesamt­kunstwerk. »1970« gewährt Einblick in den rüpel­haften bis erniedrigenden Umgangs­ton zwischen Vorgesetzten und Befehls­empfänger*innen, beleuchtet die hierarchischen Strukturen innerhalb der militärischen Politik und zeigt die Mechanismen des Krieges auf. »Just beat the crap out of them, got it?«, brüllt einer der Politiker in den Telefon­hörer. Letztendlich zeigt der Film aber auch, wie viel Macht das Volk hat, wenn es sich nur zusammen­schließt. Der Streik von Dezember 1970 hält acht Tage, bevor die polnischen Streitkräfte endgültig die Oberhand gewinnen.

Das Festival Ethnocineca zeigt noch bis 19. Mai 2022 inter­nationalen ethno­grafischen Dokumentar­film im Votiv Kino sowie im De France.

Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Schreibstipendiums, das die Ethnocineca gemeinsam mit The Gap vergeben hat. Weitere Einträge in unser Ethnocineca-Festivaltagebuch findet ihr hier.

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