Kunst, Handwerk, Hochleistungssport und Geburtsroulette – Was es für eine Karriere in der klassischen Musik braucht

Wer eine Laufbahn in der klassischen Musik anstrebt, muss hart arbeiten und viel üben. Wenn man genug leistet, schafft man es – oder? Welche Strukturen liegen der Welt der klassischen Musik zugrunde? Warum sind Orchester immer noch überwiegend weiß und männlich? Und welche Rolle spielt dabei Repräsentation?

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Vom Tellerwäscher zum Millionär – ein kapitalistisches Märchen, das ungerechte gesellschaftliche Mechanismen gekonnt kaschiert. Auch in der klassischen Musik ist der Weg zum renommierten Orchesterplatz keine bloße Frage des nötigen Einsatzes. Schaut man sich Biografien erfolgreicher Musiker*innen an, wird klar: Klassische Musik ist nicht nur Kunst, sondern auch Handwerk und Hochleistungssport. Ein Instrument ausreichend zu beherrschen, verlangt nach viel Zeit und Übung. Das zu schaffen ist nahezu unmöglich, wenn man nicht bereits als Kind damit beginnt. Motivation, Konsequenz und eine Portion Talent bilden den Grundstock, sind aber keine Garantie dafür, sich im Beruf durchzusetzen. Studienplätze sind begrenzt, begehrte Fixanstellungen noch rarer. Selbst ein abgeschlossenes Studium an einer sehr guten Musikuniversität ist nicht ausreichend, um sich für eine Anstellung zu qualifizieren: Als Anwärter*in muss man sich gegen zig andere Bewerber*innen behaupten.

Dass die Branche von Leistungsdruck geprägt ist, ist bekannt. Doch wer wird durch die leistungsorientierten Strukturen benachteiligt? Welche Zahnräder müssen im »Wheel of Privilege and Power« ineinandergreifen, damit man es schaffen kann, das Hobby zum Beruf zu machen?

Seit er vier Jahre alt ist, bekommt Konrád nun schon Cellounterricht. Durch seinen Vater, der als professioneller Cellist bei den Wiener Philharmonikern, einem der renommiertesten Orchester der Welt, engagiert ist, hatte er früh Kontakt zu klassischer Musik. Nicht nur als Hobby, sondern auch als Beruf. Nach der Volksschule fing er am Musikgymnasium Wien an, ab 13 wurde er zusätzlich an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien (MDW) unterrichtet, ehe er an die private Johann-Sebastian-Bach-Musikschule wechselte.

Die gleichaltrige Jasmin hat mit sechs begonnen, an einer Musikschule in ihrer Heimatstadt Cellounterricht zu nehmen. Für sie war der erste Kontakt zu einem professionellen Umfeld der Eintritt in ein Jugendsinfonieorchester im Alter von zehn Jahren. Dort sah sie bei anderen Jugendlichen den Weg, den man gehen kann, wenn man Musik zum Beruf machen möchte: Einige waren am MGW, dem Musikgymnasium Wien, andere studierten ihr Instrument bereits. Durch ihren Cellolehrer erfuhr sie von Wettbewerben, Sommercamps und anderen Möglichkeiten zur musikalischen Weiterbildung. Er war es auch, der vorschlug, dass sie die Oberstufe am MGW besuchen solle.

Förderung in der Kindheit

Um besonders musikinteressierte Kinder schon früh bestmöglich zu fördern, ist neben einem musikalischen Umfeld auch emotionale Unterstützung aus dem Elternhaus notwendig. Maria Grün, die als Cellistin bei den Wiener Symphonikern engagiert ist und an der MDW im Vorstudienbereich unterrichtet, kennt diese Hürde nur zu gut: »Eltern müssen gewillt sein, das Kind zum Musikunterricht anzumelden, es dorthin zu begleiten und zumindest ein bisschen zu schauen, dass zu Hause geübt wird.« Auch Magdalena Bork, Karriereforscherin und Leiterin des Talentlabs, einer Organisation für Begabtenförderung der MDW, ist überzeugt: »Gerade Kinder werden es nicht durchhalten, wenn niemand in ihrem Umfeld das Musikmachen gutheißt.«

Als Kind überhaupt erst einmal ein Instrument zu lernen und sich so die Möglichkeit offenzuhalten, die Musik später zum Beruf zu machen, ist vom Einkommen der Eltern abhängig. Bevor das Spielen eines Instruments als Lebensunterhalt relevant wird, ist es viele Jahre lang ein teures Hobby. »Es beginnt beim Instrument, man muss sich Unterricht leisten können, man braucht Noten und Saiten«, so Grün. »Allein schon ein Cellosaitensatz kostet 300 Euro, Bogenbehaarung um die 100 Euro. Beides braucht man eigentlich zweimal im Jahr, wenn man ordentlich übt. Das ist wahnsinnig teuer!«

Gibt es Fördergeld, das explizit für Familien mit geringem Einkommen zur Verfügung steht? Nicht wirklich: Finanzielle Unterstützung ist bis zum ordentlichen Studium nur punktuell verfügbar, etwa als Kostenzuschuss, um auf ein Sommercamp fahren oder einen Meister*innenkurs besuchen zu können. Längerfristige Förderprogramme, wie sie die MDW anbietet, sind an ein Vorspiel gekoppelt und damit leistungsbasiert. Jedes Semester entscheidet eine Fachjury, ob der Förderanspruch weiter besteht. Dieser zusätzliche Stress betrifft vor allem Kinder und Jugendliche, deren Eltern sich die Kosten für Instrument, Unterricht und Noten nicht leisten können. »Man muss einfach immer und immer wieder beweisen, dass man es wert ist, gefördert zu werden«, bestätigt Jasmin. Und auch Konrád weiß: »Es gibt Stipendien für sehr wenig Leute und Plätze für etwas mehr, also muss man zu den noch besseren gehören, um ein Stipendium zu bekommen.«

Weniger Geld, mehr nötige Leistung

Ein Fördersystem, das auf Leistung statt auf Bedarf basiert, verschärft den in der Branche ohnehin omnipräsenten Leistungs- und Konkurrenzdruck vor allem für ärmere Menschen. »Es ist schon anstrengend«, stellt Jasmin fest. »Zeit zum Üben zu finden, ist oft schwierig. Ich habe Schule und danach muss ich arbeiten, irgendwann noch etwas essen und zwischen Wien und zu Hause pendeln. Ich habe schon ein stressiges Leben, aber es ist machbar für mich.« Seit zwei Jahren arbeitet sie geringfügig neben Schule und Studium. Ihre alleinerziehende Mutter unterstützt sie, wo es geht, allfällige Kosten wie Anmeldegebühren für Wettbewerbe oder Reisekosten für Tourneen zahlt sie aber meistens selbst. »Wenn ich etwas ganz dringend brauche, dann frage ich meine Oma, die ist immer bemüht, mir Sachen zu sponsern.« Für größere Anschaffungen, wie etwa ihr erstes eigenes Instrument, spart die ganze Familie.

Jasmin wird sich für einen Studienplatz an der MDW bewerben, um im nächsten Semester Konzertfach Cello zu studieren. Für sie würde eine Aufnahme ins ordentliche Studium eine große finanzielle Entlastung bedeuten, denn dann müsste sie ihre Unterrichtsstunden nicht mehr selbst bezahlen.

Aber wie wird eigentlich entschieden, ob Jasmin einen Studienplatz bei ihrem gewünschten Uni-Professor bekommt? Grün spricht von einem Graubereich, der die Beurteilung ab einem hohen technischen Niveau besonders schwierig mache. Musikalische Fähigkeiten seien nicht gut messbar und sobald im technischen Können der einzelnen Bewerber*innen kaum mehr Unterschiede zu merken seien, werde die Beurteilung schnell von subjektiven Präferenzen beeinflusst. Wenn man Bewertung nicht mehr rechtfertigen muss, wenn die Aussage »der war eben überzeugender« ausreicht, um eine Entscheidung zu treffen, dann gibt es Raum für Beurteilung aufgrund von internalisierten Vorurteilen, die sich auf Geschlecht, Hautfarbe oder andere äußerliche Merkmale beziehen. Seit einigen Jahren ist es daher im Bewerbungsprozess für Orchesteranstellungen üblich, die Kandidat*innen hinter einem Vorhang vorspielen zu lassen, sodass die Jury sich völlig auf ihre Ohren verlassen muss. Eine Praxis, die zu einem sprunghaften Anstieg des Frauenanteils in Orchestern führte.

Auch wenn sich in den letzten Jahren sehr viel verändert hat, ist die klassische Musik immer noch eine ziemliche Männerdomäne. Cello zu spielen war aufgrund der breitbeinigen Haltung für Frauen lange Zeit verpönt, deshalb gibt es auch heute noch wenige Cellistinnen und damit wenige Vorbilder für junge Frauen. Konrád hatte es da leichter als Jasmin, sein erstes Vorbild war sein Vater. Als Woman of Colour hatte es Jasmin gleich doppelt schwer: »In letzter Zeit merke ich, dass fehlende Repräsentation der Grund ist, warum ich so wenig das Gefühl habe, es schaffen zu können. Es gibt generell schon wenige Frauen, die erfolgreich sind, aber ich kenne keine einzige erfolgreiche, dunkelhäutige Cellistin. Ich hatte eigentlich nie Vorbilder.«

Feedbackschleife Repräsentation

Repräsentation ist enorm wichtig, um sich überhaupt zuzutrauen, etwas zu können. Das Gute ist, dass schon kleine Verbesserungen große Auswirkungen haben können. Wenn beispielsweise mehr weibliche Musikerinnen Teil von Orchestern werden, trauen sich auch mehr Mädchen zu, eine professionelle Karriere einzuschlagen. Dadurch gibt es mehr erfolgreiche weibliche Orchestermusikerinnen, was wiederum dazu führt, dass sich das Bild einer vorwiegend männlichen Orchesterbesetzung ändert. Das bricht das Vorurteil auf, Frauen wären weniger gut fürs Orchesterspielen geeignet als Männer, wodurch das Bauchgefühl von Jurys vielleicht schon bald keinen Unterschied mehr zwischen weiblichen und männlichen Musiker*innen macht. Eine positive Feedbackschleife entsteht.

Wie müssten sich also die Strukturen verändern, damit der Zugang zum Musikstudium und damit der Weg in den Beruf als Musiker*in wirklich allen Menschen unabhängig von Einkommen, Hautfarbe oder Geschlecht offensteht?

Magdalena Bork nimmt Musikschulen, Universitäten und nicht zuletzt sich selbst in die Pflicht: »Man müsste alle Zugänge überprüfen. Man müsste schauen, wer in die Musikschulen kommt und wie. Man müsste den ganzen Zubringermarkt, bis die Leute an der Uni landen, transparent machen. So, wie es jetzt ist, überlassen wir das der freien Marktwirtschaft und das widerspricht eigentlich unserem Bildungsauftrag. Wir haben natürlich den Auftrag, den Zugang gleichberechtigt allen Menschen, die musikinteressiert sind, offenzuhalten. Wir, die die Universität vertreten, müssten dafür sorgen, dass das passiert.«

Die klassische Musik als Branche ist gewissermaßen die Gesellschaft in einem Goldfischglas, denn diskriminierende Strukturen sind in alle Lebensbereiche eingraviert. Wer sich dessen bewusst ist, kann etwas daran ändern. Wer jedoch Leistungsorientierung als Chancengleichheit missversteht, verschließt die Augen vor einem eigentlich offensichtlichen Problem: Die Verkettung von Privilegien bedeutet, wie immer wenn es um strukturelle Benachteiligung geht, dass sich vor allem weibliche, rassifizierte, behinderte, dicke oder queere Menschen mehr anstrengen müssen. Sie müssen mehr leisten, zu den noch besseren gehören, um eine annähernd gleiche Chance zu haben. Wenn die Ausgangssituationen unterschiedlich sind, führt Gleichbehandlung nicht zu Gleichberechtigung.

Jasmin und Konrád sind beide im Maturajahr des Musikgymnasiums in Wien. Dort haben sie die Möglichkeit, ihre musikalischen Karrieren während ihrer Schullaufbahn weiterzuverfolgen. Maria Grün bereitet Kinder und Jugendliche in Lehrgängen auf die Eignungsprüfungen für die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien vor. Magdalena Bork leitet das Talentlab, eine Teilorganisation der MDW, die verschiedene Förderprogramme für Studierende anbietet.

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