Ash ist 14 Jahre alt und identifiziert sich als genderfluid. Ein Versuch, das sich Wandelnde einer jungen Identität zu beschreiben.
Versuchte man einen Punkt festzumachen, an dem das sogenannte »Anderssein« begann, dann wäre das bereits der falsche Anfang. Denn meistens gibt es keinen mystischen Moment der Erkenntnis, der offenbart, dass man »anders« ist als die Optionen, die jungen Menschen geboten beziehungsweise die erlernt werden. Meistens lässt sich auch das eigene Empfinden nicht in eine stringente Erzählung packen. »Ich habe mir einfach sehr lange Gedanken gemacht, was ich sein will, und konnte mich nicht entscheiden«, erzählt Ash schon fast abgeklärt, »dann dachte ich mir: Es ist einfacher, wenn ich mich nicht entscheiden muss.«
Genderfluidität ist die Bezeichnung für eine nicht-binäre Geschlechtsidentität. Für Ash heißt das, dass sich sowohl Sexualität als auch Gender verändern können. Derzeit ist er in einer Beziehung mit einem Mädchen und identifiziert sich als Junge. Während des Interviews mit Ash ertappe ich mich dabei, wie ich ihn nach diesem Moment frage: Ab wann wusstest du, dass du dich anders fühlst? Anders – das setzt voraus, dass ich etwas als anders markiere. Anders – weil ich von der heteronormativen Mehrheitsperspektive ausgehe, die Geschlecht, Sexualität und Identität selten hinterfragt. Anders – weil diese heteronormative Erzählung linear verläuft. Nach dem Gedanken: Man hat ein Geschlecht, mit dem man geboren wurde und das bleibt auch so. Ash entgegnet: »Das ist eine komische Frage. Bei mir kann sich das immer ändern.«
Miriam Trilety ist Psychotherapeut*in, Mitglied der Expert*innengruppe Trans* Inter* Geschlechtlichkeiten – Psychotherapie des österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie und arbeitet unter anderem mit trans* Jugendlichen. Trilety beschreibt die Jugend als einen Suchprozess: »Unsicherheiten gibt es in jeder Lebensphase. Teil des Erwachsenwerdens ist es, zu überprüfen, ob dieser oder jener Entwurf zu mir passt. Und das ist ja nicht nur in der Geschlechtsidentität oder Sexualität so, sondern in allen Identitätskategorien.«
Jugend als große Unsicherheit?
Charakteristisch an der Genderfluidität ist, dass der Suchprozess nicht endet und die Veränderung Grundbedingung der Identität ist. Das kann natürlich Unruhe und Verwirrung stiften, aber viel eher – so beschreibt es auch Ash – zu einer Entlastung führen: »Als ich meine Haare kurz geschnitten hatte und mit Maske unterwegs war, wurde ich manchmal gefragt, ob ich ein Mädchen oder ein Junge bin. Zu sagen, dass ich ein Mädchen bin, hat sich nicht richtig angefühlt und mich oft runtergezogen. Seitdem sage ich, dass ich ein Junge bin.«
Ash ist groß, trägt kurze, an den Spitzen grün gefärbte Haare, ein Septum-Piercing und weite Klamotten. Sein queerer Look zeichnet sich besonders durch den androgynen Stil aus, der bewusst mit geschlechtlichen Codes spielt. Inspiration hat sich Ash hauptsächlich über Instagram und Tiktok geholt. Musikerin Becks, die sich in ihrer Musik und auch darüber hinaus mit queerer Selbstbestimmung auseinandersetzt und von Medien als »Sprachrohr der Generation Z« betitelt wird, spielt auch für Ash eine wichtige Rolle. »Ich höre ihre Musik zwar nicht, aber schaue ihre Tiktoks«, erzählt er. Auf ihrem Tiktok-Kanal hat Becks 770.000 Follows und für viele queere Menschen hat sie eine wichtige Vorbildfunktion. In ihren Videos setzt sie sich mit Geschlechterklischees der heteronormativen Gesellschaft auseinander, die sich mit der Abweichung von Aussehen und Geschlecht nicht abfinden könne.
Katharina Wiedlack, Kulturwissenschaftlerin und Mitglied der Forschungsgruppe GAIN – Gender: Ambivalent In_Visibilities an der Universität Wien, versteht Ashs Suche nach Vorbildern: »Durch positive Rollenmodelle ist es für viele Jugendliche leichter geworden, sich als queer zu positionieren und Queerness durch Stil, Kleidung und Sprechakte auszudrücken.« Die oft aufgestellte These, dass Queer-Identitäten mit sozialen Medien entstanden seien, muss dahingehend klar abgelehnt werden, denn trans* Menschen gab es schon immer. Mit dem technologischen Fortschritt haben sich viel eher die Wahrnehmungsoptionen erweitert. Miriam Trilety: »Wenn meine Eltern sagen, es gibt nur rosa und blau, dann werde ich mit dem arbeiten, was da ist. Aber ab dem Moment, in dem sich der Raum öffnet und ich beispielsweise durch soziale Medien mehr mitbekomme, habe ich mehr Variationen, mich selbst zu erleben.«
Sichtbarkeit ungleich Akzeptanz
Jedoch müsse, so Katharina Wiedlack, zwischen vermehrter Erscheinungsform in sozialen Medien und gesellschaftlicher Akzeptanz unterschieden werden: »Die leichte Zugänglichkeit und Beliebtheit dieser queeren Erscheinungsformen sagt schon etwas über die gesellschaftliche oder öffentliche Akzeptanz aus. Doch nur weil etwas medial sehr präsent ist und konsumiert werden kann, heißt es noch nicht, dass queere Lebensweisen und Menschen auch tatsächlich in ihren Gesellschaften akzeptiert und integriert sind.«
Für Ash äußert sich das in einem ständigen Rechtfertigungszwang: »Von manchen Jungs aus meiner Klasse habe ich Kommentare gehört wie ›Du siehst ja aus wie ein Junge‹ oder Kommentare von Erwachsenen, wie man sich denn als Mädchen anziehen sollte.« Neben solchen Kommentaren, die Ash leichtfertig abtut, hat er jedoch auch einen körperlich gewaltsamen Übergriff erlebt: »Ich war mit einer Freundin unterwegs, und da war eine kleine Gruppe von Leuten, die ich von früher kannte. Sie haben mich als ›Scheißlesbe‹ beschimpft und mich und meine Freundin angespuckt. Wir haben dann die Polizei gerufen, damit sie weggehen.«
Angriffe und Anfeindungen dieser Art, die eine enorme emotionale Belastung darstellen, sind leider keine Ausnahme. »Trans* und queere Erscheinungen und Menschen werden oftmals als Zielscheibe für Hass ausgewählt, weil sie binäre Geschlechterkonstruktionen infrage stellen«, beschreibt Katharina Wiedlack das Spannungsfeld der parallelen Zunahme von Sichtbarkeit und der weiterhin vorhandenen Gewalt gegen trans* Identitäten. Diese Gewalt, die ja doch sehr zielgerichtet ist, lässt Ash jedoch nicht an sich heran: »Ich weiß, dass nicht ich das Problem bin.«
Die Verwirrung der anderen
Wieso löst das Infragestellen der binären Geschlechterordnung in der heteronormativen Gesellschaft Irritationen, Angst und Vorurteile bis hin zu projiziertem Hass aus? Miriam Trilety sieht dies aus der individuell-psychotherapeutischen Perspektive: »Wenn ich verwirrt von etwas bin, dann ist das zuerst einmal völlig legitim und menschlich – da spüre ich nämlich meine eigenen Grenzen. Ich muss mich dann aber mit diesem Gefühl auseinandersetzen. Das heißt: herausfinden, was mein Anteil daran sein könnte. Und das ist die besondere Schwierigkeit – nicht das Unbekannte ist falsch, schlecht oder gefährlich; emotionale Reaktionen sind lediglich ein Ausdruck davon, wie ich das in einem solchen Moment erlebe.«
Auf gesellschaftlich-historischer Ebene, erklärt Katharina Wiedlack, seien Geschlecht und Gender schon immer fluid gewesen: »Was wir als soziale Rolle oder auch als Gender-Erscheinungsform verstehen, wandelt sich ständig über die Zeit hinweg und zwischen den verschiedenen Kontexten, Communitys und Regionen dieser Welt.« Das überwiegend als Norm angenommene Zwei-Geschlechter-Modell hat sich ab dem 18. Jahrhundert durchgesetzt. Zuvor ist man in Europa lange Zeit von einem Ein-Geschlechter-Modell ausgegangen, dass die Frau als unvollständigen Mann bzw. als Variante des männlichen Körpers annahm und die beiden nicht als Pole zweier möglicher Geschlechter gegenüberstellte. »Ab dem 18. Jahrhundert und mit der zunehmenden Bedeutung von Medizin, Anatomie und Biologie setzte sich das Zwei-Geschlechter-Modell durch, dass Mann und Frau nun als völlig unterschiedliche biologische Einheiten versteht und nicht wie zuvor von der gesellschaftlichen Rolle auf die Biologie schließt, sondern die soziale Stellung und Rolle von der Biologie ableitet«, beschreibt Katharina Wiedlack die Entwicklung.
Die Verbindung von Geschlecht mit sozialen Erscheinungsformen und Eigenschaften sei somit keine natürliche, sondern eine historisch gewachsene, die auch »wissenschaftlich« hergestellt wurde: »Die Forscher des 18. und 19. Jahrhunderts hatten ein großes Interesse daran, Unterschiede zwischen allem Weiblichen und allem Männlichen zu finden und Letzteres als wertvoller, machtvoller und wichtiger zu begreifen. Alles, was nicht in dieses enge Korsett des Zwei-Geschlechter-Modells passte, wurde als Abweichung pathologisiert.« Das, was heute aus der heteronormativen Perspektive als »anders« wahrgenommen wird, wurde erst in diesem Prozess anders gemacht.
Diese pathologische Betrachtung vielfältiger Interpretationen des Gender-Spektrums führt jedoch immer noch dazu, dass trans* Personen oftmals ein Trauma unterstellt wird, auf das die »Abweichung« zurückzuführen sei. Das sei, so Miriam Trilety, höchst problematisch: »Oftmals steckt dahinter ein Infragestellen der Kompetenzen Jugendlicher, eigene Urteile fällen zu können. Denn auf der einen Seite sollen diese Jugendlichen kompetent genug sein, Mathematikschularbeiten zu schreiben, mit 16 Jahren wählen zu gehen, mit 14 Jahren rechtsmündig zu sein, mit 15 eine Lehre zu machen, aber sie können nicht wissen, welchem Gender sie sich zugehörig fühlen.«
Auf die Frage, ob Ash sich von der Heteronormativität eingeschüchtert fühle, antwortet er selbstbewusst: »Es gibt schon Leute, die sagen, dass sie es unnormal finden, wenn sich zwei Mädchen küssen, oder die unter meinen Tiktoks mit meiner Freundin Sachen schreiben wie ›Früher war alles besser‹. Aber ich steh dazu, wie ich bin.« Besonders sein Freundeskreis habe Ash unterstützt, mutiger zu sein: »Bei uns ist das voll normal. Wir klären am Anfang ab, was unsere Pronomen sind und dann reden wir nicht weiter darüber.«
Miriam Trilety weiß Ähnliches aus der Praxiserfahrung zu berichten: »Am besten ist es, die Jugendlichen einfach immer zu fragen, welche Pronomen sie verwenden und wie sie genannt werden möchten.« Denn von außen könne man das nicht einfach anhand von Symbolen oder Markern ablesen. Dem Ansatz der Genderfluidität geht es darum, Kategorien aufzulösen, die vermeintlich eindeutig an der Erscheinung – ob an körperlichen Merkmalen oder an Kleidung – abzulesen seien.
Dieses Konzept, das immer im Wandel ist und sich nicht festlegen will, zeigt genau dann den wunden Punkt der heteronormativen Ordnung, wenn man trotzdem versucht, sich einen Begriff von dem zu machen, wofür es eigentlich keinen Begriff geben soll. »Es gibt nie eindeutige Antworten, deswegen ist der Identitätsbegriff nur dann sinnvoll, wenn man ihn als offenen und fluiden Begriff versteht«, so Trilety. Oder in Ashs Worten: »Ich will mich einfach nicht labeln.«
Als österreichweite Anlaufstelle für Themenbereiche wie Beziehungen, Sexualität oder Gewalt bietet Courage* kostenlose und anonyme Beratung für LGBTQIA*-Personen an. Mit dem Young Trans* & Inter* Camp veranstaltet Courage* ein viertägiges Ferienevent mit Fokus auf Menschen im Alter von 10 bis 22 Jahren. Auch die Homosexuellen Initiativen und die Türkis Rosa Lila Villa in Wien unterstützen in diesen Bereichen.