Kann man sagen, ein Film ist? Der Grundidee des Films »Sympoietic Bodies« von Flavia Mazzanti nach müsste es heißen: Ein Film wird. In diesem Film, er ist aktuell im Rahmen von »Speculative Fiction« in der Exhibit Galerie in Wien zu sehen, verändert sich nämlich alles, die ganze Zeit über. Er ist in einem Zustand des »kontinuierlichen Werdens«. Das macht ihn zum Ausdruck einer Vorstellung von Welt, die nicht die statische Perspektive des Menschen oder eines »Ich« ins Zentrum stellt, und noch nicht einmal die Idee einer abgeschlossenen Entität zulässt, sondern Körper, Zeit und Raum in ständiger Bewegung und Veränderung versteht.
Die Grundidee von »Sympoietic Bodies« basiert im Groben auf folgenden zwei Vorannahmen: Erstens wird die Welt in konstanter Veränderung angenommen – »a continuously changing state of becoming«. Zweitens, die Unmöglichkeit unabhängiger Entwicklung. »Nothing makes itself« – nichts erschafft sich selbst. Alles wird gemeinsam geschaffen. Statt Autopoiesis eben Sympoiesis. Ständige Bewegung findet sich in ähnlicher Form auch in der Physik. Nichts steht still, stellte diese fest. In Atomen rasen Elektronen um die Kerne und der Erdball dreht Runden um die Sonne. Alles – bis auf das Licht, das immer mit der Zeit durch den Raum reist – bewegt sich durch die Zeit. Gleiches Bild in der Metaphysik: »Alles fließt. Man kann nicht zwei Mal in denselben Fluss steigen.« So spricht Heraklit. Er findet überdies: »Alles ist gleichzeitig voll und leer«. Ausdruck von Misstrauen gegenüber dem Absoluten. So wie alles miteinander in Verbindung steht, so muss auch die Welt abhängig von unserer Wahrnehmung gedacht werden. Es gibt mehr als eine Welt.
Die Grenze zwischen dieser – dem »Äußeren« – und uns – dem »Inneren« – ist nicht leicht festzumachen. Das zu erkennen, fordert die einflussreiche Donna Haraway. Die Haut? Unsere Körper sind von Fremdkörpern durchzogen. Von Mikroplastik und Mikroben infiltriert. Die Haut lässt sich als abgrenzende Schwelle so nicht aufrechterhalten. Ebenso wenig die Grenze zwischen Natur und Technik. Mein Flug gräbt am Ozonloch!
Potenzielles Werden und Vergehen
Flavia Mazzanti hat für den Film Bewegung in Zeit und Raum erforscht. Sie hat von mehreren Perspektiven aus gefilmt, zeitlichen wie räumlichen. Sie zeigt, wie die Vergangenheit der Gegenwart anhaftet. Wie Körper zerspringen können, zu Staub. Und wie sie daraus neu entstehen können. Der Film zeigt potenzielles Werden und Vergehen. Er zeigt, wie Stadt und Mensch einander durchdringen. Dabei ist das keine Fiktion. Jeder Einstellung liegen echte Filmaufnahmen zugrunde. Die Form, die die Aufnahmen in der Postproduktion letztlich angenommen haben, ist zwar eine ungewohnte, aber im weitesten Sinne dokumentarische Darstellung der Welt. Nur ist der Blick, der eingenommen wird, eben gleichzeitig ein gigantischer Überblick, der den Raum aus verschiedenen Perspektiven erfasst, und ein Blick durch das Mikroskop. Und er weist eine Sensibilität für Zeitlichkeit auf, die jedem fotografischen Medium eigen ist, die hier aber auf eine höhere Stufe gehoben wird. Streng genommen ist jeder Film im Zustand des kontinuierlichen Werdens. Nicht umsonst heißt es »motion picture«. Im vorliegenden Fall aber ist diese Eigenschaft des Mediums mit der spezifischen Form, die es annimmt, besonders verwoben.
Flavia Mazzanti (geboren 1994) ist Absolventin der Akademie der bildenden Künste und lebt in Wien. Sie arbeitet bevorzugt mit den philosophischen Konzepten des Post-Anthropozentrismus und des Neuen Materialismus, die alternative Betrachtungen des Menschen und seiner Umwelt anstreben. Der mehrfach preisgekrönte Film »Sympoietic Bodies« ist noch bis 16. Oktober als Teil der Ausstellung »Speculative Fiction« in der Exhibit Galerie der Akademie in Wien zu sehen.
Unsere Heftrubrik »Golden Frame« ist jeweils einem Werk zeitgenössischer Kunst gewidmet. In The Gap 195 ist dies: »Sympoietic Bodies« von Flavia Mazzanti.