Beim Europavox in Clermont-Ferrand zieht ein wilder Mix an Genres, Bands und Ländern über die Bühne. Eine Entdeckungsreise für Musikliebhaber*innen.
Ganz Frankreich brennt. Ganz Frankreich? Nein! In einer kleinen Stadt im Herzen des französischen Zentralmassivs merke ich wenig von den Unruhen, die Frankreich ergriffen haben, nachdem der 17-jährige Nahel erschossen worden war. Sicher, auch hier brennen Busse, sind die Zeitungen voll von anderen Sachschäden und Tiraden gegen die herrschende Gewalt. Wohlgemerkt, meist gegen die Gewalt der demonstrierenden Menschen, weniger gegen jene der Polizei, welche diese Menschen auf die Straße gebracht hat. Wie so oft scheint Gewalt gegen Dinge die Gemüter, Medien und Politiker*innen mehr zu beunruhigen als jene gegen Menschen.
Aber, wie gesagt, von alledem spüre ich wenig, letztes Wochenende in Clermont-Ferrand – spezifisch am Europavox Festival Clermont-Ferrand. Vom Projekt Europavox haben wir ja hier – und in unserer Printausgabe! – bereits berichtet: Ziel ist ein europäisches Netzwerk aus Festivals, Musiker*innen, Publikum und Journalist*innen, das es europäischen Bands ermöglichen soll, den Sprung vom eigenen Land auf europäische Bühnen zu schaffen. Europavox Festivals gibt es mittlerweile in sieben europäischen Städten: Bukarest, Vilnius, Zagreb, Bologna, Brüssel, Wien und eben Clermont-Ferrand. Das Europavox Clermont-Ferrand ist nicht nur das größte Europavox Festival, es ist auch quasi das Original. Seit 2006 findet das Festival hier statt, von Anfang an mit dem Ziel, die Breite europäischer (Pop-)Musik abzubilden.
Ein richtiges Stadtfestival
Auch dieses Jahr wurden wieder Acts aus zahlreichen Ecken Europas eingeladen um von 30. Juni bis 2. Juli auf den drei Bühnen mit einer Gesamtkapazität von 15.000 Besucher*innen zu spielen. Veranstaltungsorte sind der Place du 1er Mai, ziemlich zentral in Clermont-Ferrand – ein richtiges Stadtfestival halt – sowie die in der Nähe gelegene Venue Coopèrative de Mai. Die Programmierung ist locker gehalten, mehr als zwei Acts spielen nie gleichzeitig und häufig ist sogar nur auf einer Bühne gerade was los. Das hat für mich den angenehmen Effekt, dass es realistisch möglich ist, den Großteil des Programms tatsächlich vollständig zu sehen. Kein stressiges Hopping von einem Act zum anderen, keine Qual der Wahl zwischen drei interessanten Acts, die gleichzeitig auftreten.
Statt drei parallelen Programmschienen erlauben es die einzelnen Bühnen eher, den Anforderungen der sehr unterschiedlichen Acts gerecht zu werden. Da ist die »Grande Scene« am Stadtplatz. Eine richtige Festivalbühne im großen Stil mit Videoleinwänden, massiver Soundanlage und ordentlich Publikumsraum. Hier spielen die (meist französischen) Headliner, die Bands mit professioneller Bühnenshow, mit Mass Appeal. Dann ist da die »Factory Scene« vor der Coopérative. Größenordnung: Open-Air-Gelände der Arena Wien. Immer noch eine größere Stage, aber wesentlich intimer. Noch Festivalfeeling, aber der Funke springt leichter aufs Publikum über – auch ohne viel Pomp und Trara. Zuletzt ist da noch »Le Club«, die einzige Indoor-Stage, in der auch untertags tatsächlich so was wie Clubfeeling entsteht. Ein bisschen ungewöhnlich für ein Sommer-/Freiluftevent, aber wie sich herausstellt, genau, was einige der Acts brauchen.
Das Festival beginnt Freitag mit einem Beitrag von links außen: Free Finga (t)rappt auf Litauisch – irgendwo zwischen R&B, Hip-Hop und eben Trap. Offensichtlich voll von Emotion, auch wenn dank Sprachbarriere nicht immer ganz klar ist, von welcher. Das ist bei Rap halt oft das Problem: Wenn etwas so vom Text abhängig ist, so verwurzelt in konkreten soziokulturellen Kontexten, ist es schwer zugänglich für Menschen, die diese Sprache nicht beherrschen und/oder die Kontexte nicht kennen. Leider ist das bei mir und Litauisch so. Trotzdem schafft Free Finga den Brückenschlag erstaunlich gut. Er haut einfach zu viel Gefühl auf die Bühne, als dass nicht irgendwas davon kleben bleiben würde.
Gesprengter Referenzrahmen
Nach Free Finga auf der kleineren Factory Stage verschlägt es mich in »Le Club«, wo die Band Sourdurent jeden meiner Referenzrahmen sprengt. Ist das traditionelle französische Musik? Eine Renaissance-Revival-Band? Ein Jazzensemble mit idiosynkratischer Instrumentierung? Noise-Folk-Punk? Ich bitte um Meinungen (siehe Video weiter unten)! Jedenfalls zeigt »Le Club« hier zum ersten Mal, wie gut es ist, diese Location im Angebot zu haben. Auf einer der beiden Freiluftbühnen wäre diese Kombo völlig verloren.
Etwas später dann der erste Beitrag auf der Mainstage für mich: der französische Apfel Pomme als Pilz auf einer pilzbefüllten Bühne. Charmant, unaufgeregt, Sommerstimmung. Gutes Nachmittagsprogramm zum Picknick. Parallel dazu das dänische Jazzduo Svaneborg Kardyb in »Le Club«. Als ich nach der Hälfte von Pomme hinüberwechsle, ist dort kaum noch Platz. Zum Glück hab ich die beiden schon in Bukarest gesehen, denn Keyboarder Nikolaj Svanebord und Schlagzeuger Jonas Kardyb kommen nicht nur extrem sympathisch rüber, sondern ihre offensichtliche Freude daran, hier und jetzt zusammen spielen zu dürfen ist immens ansteckend. Ich würde die beiden nur allzu gerne mal in einem Jazzclub hören, gemütlich mit einem Drink in der Hand an einem Tisch sitzend, für ein ausgedehntes Set mit viel Ruhe und Entspannung.
Dann das erste der beiden Highlights des Tages: Ada Oda, eine belgische Band mit italienischen Vocals. Eine energiegeladene Performance, die nicht nur einmal die Bühne verlässt, ein Bad in der Menge nimmt und auch sonst mit allen partizipativen Kniffen agiert. Einfach Post-Punk-Pop-Rock, der Spaß macht. Unkompliziert, unprätentiös, sich ständig steigernd und am Höhepunkt ist Schluss. Eine Band, die weiß, wie ein Liveset funktionieren soll.
Große Bühne, große Geste
Der letzte nennenswerte Act am ersten Tag ist -M- aka Matthieu Chedid. Bei uns kaum bekannt, aber in Frankreich ein Superstar – oder zumindest nicht weit davon entfernt. Die Texte singen alle mit und die Show ist eine Wucht. Große Bühne natürlich, ein riesiges Auge im Hintergrund, glitzernde Kostüme, Gitarren und eine Haube in Form eines Ms. Mit auf der Bühne Gail Ann Dorsey, Bassistin unter anderem für David Bowie. Musikalisch ist das ein bisschen (Glam-)Rock, ein bisschen Funk, ein bisschen Chanson. Große Emotion, große Geste, große Dramatik.
Tag zwei bringt vermutlich die größte Enttäuschung des Festivals: Shame gehen auf der großen Bühne völlig unter, hampeln unbeholfen herum und fragen nach jedem Lied etwa dreimal ob wir eh »a fucking good time« haben. Publikum und ich antworten nicht mal mit Achselzucken. Vielleicht ist es die falsche Bühne, vielleicht zu früh am Tag, vielleicht ist da irgendwas lost in translation. Was auch immer der Grund ist, ich gehe nach der halben Performance. Ich hab genug von wütender Musik von wütenden Männern, bei denen weder ich (noch vermutlich sie selbst) so ganz genau wissen, worauf sie wütend sind. Die irische Band Thumper auf der Factory Stage macht da anschließend Ähnliches, nur besser. Mehr Energie auf der (kleineren) Bühne, weniger Wut. Das wirkt mehr, als hätten sie Spaß an dem, was sie tun, und das Publikum hat auch mehr Spaß an ihnen.
Clubatmosphäre am Festival
Dann der österreichische Beitrag des Festivals: Cid Rim mit Drums und Keyboard irgendwo zwischen Jazz und Bass. Clubsounds und Clubatmosphäre am Festival in »Le Club«. Volle Tanzstimmung kommt nicht auf – vielleicht doch etwas zu früh – aber die Menge wabert und wogt. Clemens Bacher wechselt zwischen seinen Instrumenten – mal mit jazzigen Solos, mal mit härteren Beats. Darüber und dazwischen immer wieder seine Vocals – Pitch-Shift, sphärisch, ein weiterer Layer im gewebten Sound-Teppich.
Vor dem heutigen Headliner dann noch Hip-Hop mit Bianca Costa und dem vermutlich bislang jüngsten Altersschnitt im Publikum, was sich nicht zuletzt an der Dichte der in die Höhe gehaltenen Handys bemerkbar macht. Französischer Hip-Hop ist in Frankreich ganz groß, und egal ob Josman und Tiakola auf der großen Bühne oder Varnish la Piscine und eben Bianca Costa auf der kleineren Factory Stage: Der Publikumszuspruch ist gewaltig. Die Performance von Bianca Costa ist etwas gewöhnungsbedürftig sexualisiert – gerade wenn man eher Underground-Acts aus deutschsprachigen Ländern gewohnt ist. Die Lieder aber Tiktok-trendig kurz und gut merkbar, klare Hooks und Melodien, bis hin zu verarbeiteten Fußballhymnen (»Olé, Olé, Olé«).
Trotz aller Publikumsbegeisterung für Costa: In der Mitte ihres letzten Liedes ziehen ca. zwei Drittel der Zuschauer*innen schlagartig ab Richtung Mainstage. Es spielen Louise Attaque, eine Folk-Punk-Rock-Band. Obwohl es diese schon seit 30 Jahren gibt, zieht sie auch das jüngere Publikum an. Ich selbst habe vorher noch nie von der Band gehört, sie klingt für mich ein wenig nach Flogging Molly, aber halt in der französischen Variante. Ohne kulturellen Kontext schwer, da Bezug herzustellen, aber der Platz des ersten Mai ist berstend voll; alle singen mit und die Handys in der Luft sind fast so dicht wie bei Bianca Costa. Ich verabschiede mich aber für eine kurze Pause in den VIP-Bereich und warte auf eines meiner Highlights des Tages.
Sie tanzt, wir tanzen
Denn im Anschluss an Lousie Attaque folgt auf der Factory Stage die norwegische Pop-Sängerin Skaar. Ein Kollege aus Barcelona meint: »This is like watching Taylor Swift – but from only a couple of meters away.« Ich stimme zu. Die Performance ist tight. Extrem gut produzierter Skandi-Pop, Setlist sitzt ohne Wackler, Sound ist BIG. Auf der Bühne die Band zurückgenommen in Schwarzweiß und in der Mitte Sängerin Skaar in wallenden roten Gewändern. Sie grinst, wir grinsen, sie tanzt, wir tanzen – sympathischer, energetischer, guter Pop. Ist das diese flüchtige Starqualität? Etwas Schade nur: die zwei leiseren Lieder mit akustischer Gitarre sind etwas zu subtil fürs Publikum, das Gemurmel wird dort recht laut.
Und dann ist das Festival eigentlich schon fast vorbei für mich. Den dritten Tag (Sonntag) muss ich leider verpassen, den brauche ich fast vollständig, um aus dem kleinen Städtchen im Herzen Frankreichs wieder nach Wien zu kommen. Einziger Programmpunkt noch vor dem Schlafengehen: ein DJ-Set von Pedro Winter, dem ehemaligen Manager von Daft Punk und Betreiber des Labels Ed Banger Records. Es ist vor allem Nostalgie, die mich dorthin treibt. Zu oft hab ich Anfang der Nullerjahre meine Nächte mit French House im Salzburger Republic verbracht. Geplant ist ein kleiner Abstecher vor dem Einschlafen. Doch aus dem kurzen Nostalgietrip wird eine Nostalgiereise. Abtanzen zu Justice, DJ Mehdi, Uffie, Mr. Flash, Cassius und, und, und … Von den Songs, über die Visuals, zur Stimmung: ein Flashback nach dem anderen. Ich bleibe bis zum Finale.
Damit gehen zwei Tage Europavox zu Ende. Von kleinen obskuren Kombos über riesige französische Acts, die im Rest Europas kaum jemand kennt, bis hin zu Bands, die gerade den Sprung auf die internationale Bühne schaffen – quer durch die Genres, quer durch Europa.
Das nächste Europavox Festival in Wien findet am 17. und 18. November 2023 im WUK statt – sofern die aktuell laufenden Bauarbeiten mitspielen. Weitere Infos finden sich zeitgerecht auf den Websites von WUK sowie Europavox.
Offenlegung: Unser Besuch in Clermont-Ferrand erfolgte auf Einladung von Europavox.