Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald. Die wichtigsten deutschsprachigen Neuerscheinungen im April 2024. Mit Augn, Kettcar, Nichtseattle und mehr.
Kettcar – »Gute Laune ungerecht verteilt«
[Hier einsetzen, was alles sieben Jahre lang dauert.] Anyway, sieben Jahre seit der letzten Kettcar-Scheibe sind eine verdammt lange Zeit. Vor allem ist das eine lange Zeit für eine Gruppe wie Kettcar, die spätestens mit ihrem Vorgänger »Ich vs. Wir« zu jener Band geworden ist, die das Politische vielleicht am wenigsten vom Privaten trennt, die ihr altes Mantra »Es gibt kein Außen mehr / Kein Drinnen und Draußen mehr« mehr lebt als 99% aller Küchentisch-Empörten. Zwischendurch gab’s schon Pausen und Auflösungsgerüchte, nur um 22 Jahre nach dem epochalen Debüt nun doch wieder zurückzukommen: Es ist viel passiert, zu viel, zu viel schlimmes – nicht nur die gute Laune ist noch ungerechter verteilt als jemals zuvor. Viel aufzuholen also für Marcus Wiebusch und Gang, die dafür auf dem sechsten Album zum ganz großen Rundumschlag ausholen: Ob Alltagsrassismus (»München«), »Cancel Culture« (»Kanye in Bayreuth«), Ausbeutung in sogenannten »systemrelevanten« Jobs wie Pflege und Transportleistungen (»Doug & Florence«) – in fast jedem Stück steckt das große Ganze drin, da sitzt natürlich jeder einzelne Satz. Aber nicht nur lyrisch überzeugt »Gute Laune ungerecht verteilt« auf ganzer Linie: Musikalisch sind Kettcar 2024 vielschichtig wie nie, emanzipieren sich – wie vergleichsweise etwa The National – stark von ihrem »Indie-Sound« und sind einfach Pop all over.
»Gute Laune ungerecht verteilt« von Kettcar erscheint am 5. April via Grand Hotel van Cleef. Live Termine: 21. April, Wien, Arena (ausverkauft) — 25. Juli, Wien, Arena (Zusatztermin) — 29. Juli, Graz, Kasematten. Album hier kaufen.
Augn – »Gerstenkorn / Fata Morgana«
Bevor das deutsche Brachial-Lo-Fi-Post-Punk-Ungetüm Augn Österreich unsicher macht – am 24.10. in Dornbirn, am Nationalfeiertag in der Roten Bar, hundert Prozent Empfehlung gibt’s normal nicht einmal bei Google Maps, hier aber schon – schmeißt das Strumpfmasken-Duo ihr zweites Album, genauer gesagt ihr zweites Doppelalbum, auf den Markt. Teil eins, »Fata Morgana«, besteht größtenteils aus knüppelharten, bereits bekannten, Evergreens wie den Top-Songs »A&R«, »Piep«, »Coronahilfe« und »Beyonce«, die du in deinen letztjährigen Jahrescharts so dringend gebraucht hast wie deine bloße Existenz. Wer da noch nicht mit-»singen« kann, hat’s nicht gerafft. Teil 2, »Gerstenkorn«, ist natürlich wie bislang alles (»Du wirst sehen«, »Grauer Star«, und eben »Augn« sowie »Fata Morgana«) auch recht optimal optisch betitelt. Hier finden sich vor allem Stücke, die für 2024 auf deinen Most-Listens-Listen stehen werden, die genau so kompromisslos instrumentiert – denk an Sleaford Mods, nur mehr Punk – und vor allem betextet sind, wie das, was man nur zu hoffen gewagt hat. Besonders schön ist dabei die Doppelmoralkeule »Habibi« und sowieso alles. Wer wirklich noch auf »All Killer, no Filler« steht, bitte betreten Sie die wunderbare Welt von Augn!
»Gerstenkorn / Fata Morgana« von Augn erscheint am 5. April via Dioptrien. Live Termine: 24. Oktober, Dornbirn, Spielboden — 26. Oktober, Wien, Rote Bar im Volkstheater. Album hier kaufen.
Nichtseattle – »Haus«
Nach »Wendekid« und der sehr schönen »Kommunistenlibido« von 2022 schlägt Katharina Kollmann alias Nichtseattle das nächste schwermütige Kapitel auf – und es ist ein ganz schön dicker Wälzer geworden: Auf zwölf Stücken, die der Drei-Minuten-Formatradio-Marke nicht einmal ansatzweise eine Chance geben, werden seitenweise Geschichten erzählt, von Frauen, Männern und Am-Alltag-Zerschellten, von gerichteten Kronen und verschlossenen Augen, von Einsamkeit und Prekariat, von dir und mir also. Als Dach dient dabei die Metaphorik eines Hauses, jedes Stück trägt so etwas wie ein eingeklammertes Zuhause im Titel: von der Eigentumswohnung, dem Proberaum über Zelte und Papierhäuser bis hin zu Fahrgastunterständen. Obwohl »Haus« in seiner Instrumentierung ein Band-Album ist – auch wenn es eher wenig scheppert, nur ab und zu ein bisschen – schafft die Berlinerin ein Storytelling und ein Songwriting voller Intimität, Vertrautheit und gleichzeitig Zugänglichkeit, die auch viel von den Hörenden einfordern. Nichts für nebenbei, sondern für mittendrin.
»Haus« von Nichtseattle erscheint am 12. April via Staatsakt/Bertus/Zebralution. Noch keine Österreich-Termine. Hier kaufen.
Pavelo & Schnell – »Autoradio«
Pfiffige Berliner Playlisten-Bastler*innen kuratieren für den Streaming-Dienst mit den grünen App-Icon zielgruppenmaßgeschneiderte Mixtapes, eine davon nennt sich »Wilde Herzen« und lässt sich als »Indie, Pop und Rap mit deutschen Texten« KI-selbstbeschreiben: Vermutlich tauchen sie eh dort auf, aber man könnte genau diese Beschreibung auch auf Pavelo & Schnell anwenden. Nachdem im Vorjahr das passable »Volumen & Kraft« erschien, schmeißt sich das Berliner Duo auf seinem zweiten Album »Autoradio« – das Medium, für das es auch hauptsächlich gedacht scheint – durch die Genres, dass es nur so eine Freude ist: Von NDW bis Post-Punk, von Electroclash bis Bum-Bum, von Rap bis Sphäre. Klingt also ziemlich nach Frühe-10er-Audiolith. Tritt dabei aber, um beim Albumtitel zu bleiben, eher etwas auf die Bremse. Eignet sich also nicht unbedingt zum Heizen über Landstraßen in die nächste Großraumdisco, sondern eher zum Cruisen durch neonverstrahlte Großstädte. Denk an: Youtube-Videos wie »Driving in Retro Futuristic Neon City Screensaver 4K.«
»Autoradio« von Pavelo & Schnell erscheint am 5. April via Zeche Prellverein. Am 19. April spielt die Gruppe im Wiener Rhiz. Album hier kaufen.
Erik Leuthäuser – »Sucht«
Wenn Sie dieses Gesicht schon einmal gesehen haben – es könnte Ihnen aus Ihrem Only-Fans-Feed bekannt vorkommen. Der 27-jährige Sänger, LGBTQIA+-Aktivist und Pornodarsteller Erik Leuthäuser, der zwischen Jazz, R&B, Dreampop und sowieso den experimentelleren Spielarten der Popmusik wandelt, veröffentlicht auf seinem ersten deutschsprachigen Solo-Album Stücke über Abhängigkeiten: Von Sex, von Liebe, gerne auch in Verbindung mit Crystal Meth, und dann vor allem von der Droge selbst, mit der sich der Berliner durch die Pandemie schleppt – von Überdosen-Freundschaften und Einsamkeit und auch der zunehmenden Vereinsamung durch das Gift. Ziemlich heavy also und auch ziemlich ungewohnt, ziemlich beispiellos in seiner Begegnung und Aufarbeitung der namensgebenden Sucht. Interessant ist dabei, dass zwar der Inhalt recht schwermütig sein muss, aber dem Ganzen eine gewisse Nonchalance innewohnt, ein Charisma, ein Akt der Befreiung – und vor allem ein Mutmachen.
»Sucht« von Erik Leuthäuser erscheint am 26. April via Fun In The Church. Aktuell keine Termine in Österreich. Hier kaufen.
Außerdem erwähnenswert:
Wolke – »Wolke«
(VÖ: 12. April)
Wir hatten uns an dieser Stelle immer recht begeistert über die Solo-Alben von Oliver Minck gezeigt – und in der Tat waren und sind »Einsame Inseln« und »Grüße an die Welt« tolle Softfolk-Alben. Nach zwölf Jahren feiert seine Kammer-Klavier-Pop Gruppe Wolke nun jedoch ein unerwartetes Comeback – und setzt rein musikalisch ihren zeitlosen Stil fort, ohne jedoch aus der Zeit gefallen zu sein. Das Album kann man hier kaufen – ein Konzert in Österreich ist derzeit nicht fixiert.
Im Taxi rauchen – »Snabel«
(VÖ: 12. April)
Wer – wie so viele – ein Herz für Songwriter-Punk hat, dürfte am 2019 gegründeten Duo aus Essen und Osnabrück nicht vorbeigekommen sein. Wer noch dazu Lust auf sehr eindeutige Anspielungen im Bandtitel hat, sowieso nicht: Nun stellen Im Taxi rauchen bereits ihr zweites Album in die Regale der Republiken und sind erst einmal gegen alles, was keinen Spaß macht – Social Media im Allgemeinen, nervige Emotionen und das Hinfallen im Bus. Album hier kaufen, keine Konzerte in Österreich. (Achtung, Song im Video ist nicht auf dem Album.)
Max Prosa & Sascha Stiehler – »Dein Haus«
(VÖ: 26. April)
Auch interessant: Während die meisten deutschen (Indie-)Pop-Acts langsam an die Charts rangeführt werden und eher mit Album Nummer sieben zum ersten Mal dort reüssieren, ist es mit Max Prosa umgekehrt. Etwa zur Zeit des größten Erfolgs »Die Phantasie wird siegen« (2012) beginnt die Zusammenarbeit mit Pianist Sascha Stiehler, die nun in der ersten gemeinsamen Veröffentlichung, die sehr viel sehr melancholischen Klavierpop bietet, mündet. Hier kaufen, keine Österreich-Termine.
Die bisherigen Veröffentlichungen von Dominik Oswalds Reihe »Muttersprachenpop« finden sich unter diesem Link.