Muttersprachenpop – die wichtigsten Veröffentlichungen im April 2022

Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald.

Nichtseattle © Noel Richter
© Noel Richter

Die Arbeit – »Wandel«

Die Arbeit © Tine Jurtz
Die Arbeit © Tine Jurtz

Begeisterungsstürme an dieser Stelle sind im Großen und Ganzen eher die Ausnahme, für das 2020 erschienene Debüt der Dresdner Gruppe Die Arbeit machten wir aber ebenjene. »Material« war ein veritabler Kandidat für eine Top-10-Platzierung in Jahresbestenlisten, hier und auch andernorts, die Erstpressungen waren in Windeseile ausverkauft, kommender Klassiker, quasi. Die Zuneigungspaarung »Wien – Die Arbeit« scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen, für das Zweitwerk »Wandel«, das auch wieder jede Menge Grund zur Ausschüttung von Vorschusslorbeeren liefert, wurde in der Donauhauptstadt von David Furrer produziert. »Wandel« war so nicht geplant, als die Tour gestrichen wurde, aber Möglichkeit für künstlerisches Vehikel. Obwohl ganz ohne Konzept entstanden und inhaltlich ohne allzu roten Faden, steht die intrinsische Metamorphose im Zentrum der Songs. Musikalisch hat sich aber – zum Glück! – nichts geändert. Kühler, cooler, treibender, unwiderstehlicher Post-Punk, deutsche Molchat Doma quasi. Man merkt, hier hat sich eine Gruppe gefunden, die weiß, was sie will, weiß, was sie kann und weiß, wie großartige alternative Musik zu klingen hat. Top!

»Wandel« von Die Arbeit erscheint am 8.4.2022 via Undressed Records/Edel. Live Termine: 27.4. Kramladen Wien, 28.4. Die Bäckerei Innsbruck. Hier kaufen.

Die andere Seite – »Epithymia«

Tom Schilling © William Minke
Tom Schilling © William Minke

Tom Schilling also. Die Frage nach dem so verpönten »singenden Schauspieler«, wie etwa bei Matze Schweighöfer, nur um das falscheste aller Beispiele zu nennen, stellt sich hier aber schon lange nicht mehr, bereits das eigentliche Album-Debüt »Vilnius« unter dem Namen Tom Schilling & The Jazz Kids, war ein wirklich sehr solides Stück Musik, mit schönen osteuropäischen Einflüssen, wie tschechoslowakische Märchen, nur mit der typisch genölten Stimme. Mit nahezu gleicher Besetzung vor und hinter den Reglern erscheint nun unter den Namen Die andere Seite – wegen Trennung von Mensch und Rolle – das neue Werk »Epithymia«, das aber musikalisch recht ähnlich funktioniert, wenngleich deutlich düsterer: Als Referenzen seien ins Stammbuch eher Madrugada, Velvet Underground oder Swans geschrieben, immer natürlich aber mit einem etwas poppigeren Touch, man wagt nur den Blick in den Abgrund, geht aber eher nicht einen Schritt zu weit, wäre auch unpassend. Auch textlich passt hier alles, Kurzgeschichten von Gaslighting, verlassenen Städten und Partner*innen, (Todes-)Sehnsüchten und allgemeinen Wahrhaftigkeiten. Stark!

»Epithymia« von Die andere Seite erscheint am 22. April 2022 via Virgin Music. Keine Ö-Termine. Hier shoppen.

Nichtseattle – »Kommunistenlibido«

Nichtseattle © Noel Richter
Nichtseattle © Noel Richter

Mode-Tipp für alle trendbewussten Turnsackerl-Träger*innen: Statt »Wir sind hier nicht in Seattle« einfach mal »Wir sind Nichtseattle« mit Edding schreiben. Denn: Die Berlinerin Katharina Kollmann hat sich jedes Following verdient, quasi eine Jugendbewegung in ihrem Sinne. Unter dem aktuellen Projektnamen erschien zwar schon das Album »Wendekid«, mit »Kommunistenlibido«, das auf Staatsakt erscheint, sollte der früher als Lake Felix bekannten Künstlerin der Durchbruch gelingen, wenn es denn so etwas noch geben sollte. Schließlich erzählt sie fernab von radiotauglichen Längen – 50 Minuten für 9 Stücke – als Songs getarnte Psycho- und Soziogramme, in denen herzzerreißende und gleichsam erbauliche Geschichten vom Scheitern in der Großstadt, von Scherbenhaufen der Seele, vom Verlieren des Selbst. Äußerst getragen instrumentiert ist jegliche Lautstärke zuerst untersagt und dann pointiert in Form von Feedbacks als Ausrufezeichen eingesetzt – ein Spannungsbogen, der stets die wirklich tollen Storys unterstützt. Wirklich sehr cool geworden, das Ding.

»Kommunistenlibido« von Nichtseattle erscheint am 29. April 2022 via Staatsakt/Bertus/zebralution. (Noch) keine Österreich-Termine. Kaufen kann man hier.

Nullmilliliter – »Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd«

Nullmillimeter © Victor Kataev
Nullmillimeter © Victor Kataev

Es gibt zwei Wege, exzessives Namedropping zu bewerten: Als Untergrabung des eigenen Seins oder – hier die richtige Wahl – als Kompliment. Die sehr tolle Gruppe Nullmillimeter steht nämlich in direktem Zusammenhang mit Wolfgang Müller, Olli Schulz, Tom Liwa, Jochen Distelmeyer, Gisbert zu Knyphausen, mit all diesen Koryphäen hat der Fünfer aus Hamburg und Berlin zusammengearbeitet. Erfahrung, die man auch auf diesem sehr routinierten Debüt einer gesetzten Band überall spürt. Auf den zwölf+ Stücken erschließt sich eine entspannte Mischung aus Country Noir, Americana und fließendem und zurückhaltendem Indie-Rock verschiedener Schulen, die dabei aber stets konterkariert wird von einer gar unüblichen Schwere in den Texten von Frontfrau Naëma Faika, in denen es gleichsam um Verletzlichkeit, Kompromisslosigkeit und der Unmöglichkeit genau dieser radikalen Gefühlslagen geht, am eindrucksvollsten im tiefschwarzen »Zwillingsschwester« oder in den eher rockigen Vorab-Stücken »Nö du« und »Selbstermächtigung«. Gute Platte, das.

»Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd« von Nullmillimeter erscheint am 1. April 2022 via Fressmann. Keine Österreich-Termine. Kaufen z.B. hier

Die Wände – »Die Wände«

Die Wände © Colette Pomerleau
Die Wände © Colette Pomerleau

Neues aus der beliebtesten Kategorie der Lesenden dieser Rubrik: Ein Schwank aus dem Leben des Autors. Falls – Betonung auf: falls! – Gäste kommen, geht der Griff ins Plattenregal immer recht bald ebenso zielgenau zum Debüt der extrem guten Berliner Band Die Wände. »Im Flausch« dürfte wohl das beste Album des alten Labels Späti Palace überhaupt sein. Für das selbstbetitelte Zweitwerk geht es eine Stufe höher, Glitterhouse Records hatte bereits die Artverwandten Die Nerven zu endgültig zu Top-Stars der Szene gemacht. Und ich sage einmal so: Auch Die Wände sind auf einem guten Weg, dem deutschsprachigen, wavigen Post-Punk ihren Stempel aufzudrücken. Zu ein- und ausdrucksvoll sind die treibenden Gitarren-Wände (lel), schroff und spröde und Neonlampen-verliebt, zu tanzbar und gleichzeitig traumwandlerisch, knallharte Floorfiller für New-Wave-Partys, wenn es so etwas noch gibt (wenn ja, bitte Bescheid geben!). Das ist klug, das ist todescool, das sind Die Wände. Mega!

»Die Wände« von Die Wände erscheint am 15. April 2022 via Glitterhouse Records. Keine Österreich-Termine. Kaufen vorzugsweise hier.

AUSSERDEM ERWÄHNENSWERT:

Richie Bravo – »Best Of  – Lieder meines Lebens«

(VÖ: 8. April 2022)

Mehr als dreißig Jahre nach seinem Top 10 Hit »Amore Mio« wagt der Ex-Schlagerstar und noch-immer-Charmeur Richie Bravo einen Neuanfang. Sein Best Of ist ein Zuckerl für seine alten Fans und sollte – wenn alles seinen normalen Weg geht – die Einstiegsdroge für neue sein. Mehr dazu findest du demnächst online auf thegap.at bzw. in Ausgabe #192. Album kaufen? Hier.

Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys – »Mille Grazie«

(VÖ: 8. April 2022)

Die beste Band der Welt lässt nicht locker. »Greatest Hits«, Album #1, war ein Geniestreich, von dem selbst überdurchschnittliche Genies ein Leben lang träumen, »Mille Grazie« setzt dem ganzen die Krone auf. Um diesen Release gebührend zu feiern, findest du natürlich demnächst noch mehr auf thegap.at. Hier kannst du die Platte kaufen.

Bilderbuch – »Gelb ist das Feld«

(VÖ: 8. April 2022)

Gaaanz entspannt: Nach der Vier-Alben-Flut von 2014 bis 2019 lässt sich die vermutlich wichtigste österreichische Gruppe des letzten Jahrzehnts für das schwierige Album Nummer 7 extra viel Zeit, investiert aber auch inhaltlich und klanglich einiges in einen Cool-Down, an sonnendurchleuchtenden Pop und smoothe Feelings. Das Album ist hier shoppable.

Love God Chaos – »Wir leuchten im Dunkeln«

(VÖ: 29. April 2022)

Die Grazer Indie-Rocker schicken ihr bereits viertes Album ins Rennen für die Plätze im Plattenregal. Wie auf den bisherigen Werken gibt es artifiziellen Alternative Rock mit Betonung auf letzterem zu hören, wenngleich auch der Hang zur großen Geste nicht fehlen darf: Schließlich spielt auch das Czech Film Orchestra teilweise die erste Geige in den ausufernden Songs. Hier kaufen.

Die bisherigen Veröffentlichungen von Dominik Oswalds Reihe »Muttersprachenpop« finden sich unter diesem Link.

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