Performancekünstlerin Florentina Holzinger fordert ihr Publikum gerne heraus. Nun tut sie das als Hauptdarstellerin in Kurdwin Ayubs neuem Film »Mond«.
Geschickt klettert Florentina Holzinger einen Bagger hinauf, turnt zwischen Schaufel und einem Haufen losen Asphalts hin und her. Wir sind auf der Wiedner Hauptstraße unterwegs, die Straßen sind mit Baustellen zugepflastert. Ob sie denn nicht mit ein paar Geräten posieren möchte? Herausforderung ist das für die Choreografin und Performancekünstlerin keine. Dank ihrer Versiertheit in Tanz und Kampfsport bewegt sie sich mit einer trügerischen Leichtfüßigkeit, dabei stets ein breites Grinsen auf den Lippen. »Die sind cool, weil man mit ihnen schwere Dinge heben kann«, meint sie zu dem Fuhrwerk unter sich. »Sie sind nicht dafür gemacht, Menschen zu heben. Deswegen arbeiten wir gerne mit denen.«
Wir, das sind sie und ihre sich stets wandelnde Tanzkompanie. Die Arbeit, damit sind ihre Performances gemeint. Einerseits die großen, spektakulären Bühnenshows, wie die Oper »Sancta«, die im Mai 2024 am Mecklenburgischen Staatstheater in Schwerin Premiere feierte und in der sie halbnackte Nonnen inlineskaten sowie von Kirchenglocken baumeln lässt. Andererseits auch ihre kleineren Performances, »Etüden«, wie Holzinger sie nennt. Erst im September hing sie dafür nackt von einem Helikopter über dem Bergener Hafen. So wie Fische? »Ich bin der Fisch«, lacht sie.
Gegen den Strich
Das Repertoire ist reich bei Holzinger, die als eine der gefragtesten Choreograf*innen im deutschsprachigen Raum gilt. Jung, provokativ, gegen den Strich – solche Schlagwörter kommen einem bei ihren Shows in den Sinn. Aber dann ist sie doch wieder höchst penibel, was ihre Projekte angeht: »Natürlich bin ich sehr selektiv bei dem, was ich mir aussuche. Es interessiert mich besonders, wenn es etwas ist, das meinem Bereich fern ist.« Fern war auch das Angebot, das eines Tages von der Filmemacherin Kurdwin Ayub hereingeflattert kam: ob sie die Hauptrolle in deren Film »Mond« übernehmen wolle – dem zweiten Teil in der »Sonne, Mond und Sterne«-Trilogie.
»Ich kannte Kurdwin natürlich, weil wir uns schon öfters über den Weg gelaufen sind«, erinnert sich Holzinger. »Auch ihre Arbeit kannte ich ein wenig. Daher war sie für mich eine Künstlerin, die man gerne unterstützt und deren Arbeit man respektiert. Die Idee, gemeinsam etwas zu machen, fand ich cool.« In die Zusammenarbeit sei Holzinger mit dem Grundvertrauen gestartet, dass letztendlich ein guter Film herausschauen würde.
In »Mond« spielt Holzinger die Ex-Kampfsportlerin Sarah, die eine Anfrage aus Jordanien erhält, in einem reichen, abgelegenen Haushalt drei Mädchen in Kampfsport zu unterrichten. Bald merkt sie jedoch, dass die Mädchen nicht nur wenig Interesse an den Trainingsstunden haben, sondern auch, dass deren Lebenssituation im Haus einige Fragen aufwirft. Männliche Kontrolle, kein Handy, bei Widerspruch sofort Strafe. Sarah soll diese Dinge nicht sehen. Doch lange kann sie diesen Zustand nicht ignorieren. »Mond« ist dabei keine Held*innengeschichte einer weißen Frau im Osten. Ayub zeigt erbarmungslos auf, wie unverrückbar manche Zustände sind.
Fern in vier Stunden
Die Rolle der Frau im Nahen Osten ist ein wiederkehrendes Thema in der Filmografie Ayubs, sie behandelte sie schon im Vorgänger »Sonne« und in ihrer Doku »Paradies! Paradies!«. Holzinger: »Sie ist von ihrer Autobiografie inspiriert – zwischen zwei kulturellen Welten zu stehen und das aus einer feministischen Perspektive zu beleuchten.« Dies sei ihr in ihrer eigenen Arbeit zwar auch wichtig, den Nahen Osten habe sie davor aber noch nicht aufgegriffen. »Ich komme nicht aus diesem Kontext«, erklärt die Künstlerin. »Aber damals hatte ich schon angefangen, an meiner Kirchenoper ›Sancta‹ zu arbeiten, und fand es super, mich parallel dann noch in einem muslimischen Kontext zu bewegen und das mit dem katholischen zu vergleichen.« Und auch wenn Jordanien nur knapp vier Stunden Flugzeit entfernt war, sei es schon eine andere Welt gewesen. »Wir mussten die Leute, mit denen wir dort gearbeitet haben, von meiner Performancearbeit fernhalten, um da nicht in irgendein Problem zu geraten.«
Wozu Holzinger gleich einen persönlichen Bezug aufbauen konnte, war die Kampfsportausbildung ihrer Figur. »Natürlich hatte ich sofort so eine Hollywood-Fantasie, mich da hineinzusteigern, um diese Ex-Kampfsportlerin glaubhaft darzustellen«, besinnt sich Holzinger auf ihre Motivation, Ja zu sagen. »Sarah war ein interessanter Charakter, und für mich war es schön, mich wieder mehr mit Kampfsport auseinanderzusetzen.«
Ihre Begeisterung für diesen Sport kam kurz nach ihrem Choreografiestudium an der School for New Dance Development (SNDO) in Amsterdam. »Früher habe ich viel Kampfsport betrieben, auch eine Arbeit vor einigen Jahren hat sich sehr damit auseinandergesetzt«, erzählt sie. »Für den Film hatte ich ausnahmsweise Zeit in meiner Agenda und ich habe es genossen, mich wieder mehr damit zu beschäftigen.« Dass Holzinger neben Kampfsport und zeitgenössischem Tanz auch gerne Anleihen bei klassischem Ballett in ihre Performances verpackt und sich so einer klaren künstlerischen Zuordnung verwehrt, hat wohl viel damit zu tun, dass sie erst spät ins Metier eingestiegen ist.
Kulturelles Neuland
Ihre Familie sei nicht kulturell geprägt gewesen, erklärt sie. Oper, Ballett oder sonstige kulturelle Veranstaltungen seien kein familiärer Fixpunkt gewesen. Erst in ihrer Schulzeit sei sie damit in Kontakt gekommen. »Meine erste Tanzerfahrung war Ausdruckstanz«, erinnert sie sich. »Also etwas, bei dem niemand irgendwas vorschreibt und man sofort intuitiv arbeitet.« Seit 2011 tritt sie regelmäßig mit Soloprojekten sowie Ensembles auf, unter anderem verbindet sie noch aus ihrer Zeit an der SNDO eine enge Zusammenarbeit mit dem Tänzer Vincent Riebeek. 2012 gelang Holzinger der Durchbruch beim Wiener Tanz- und Performancefestival Impulstanz, als sie den Prix Jardin d’Europe für ihr Stück »Silk« gewann.
Seither gesellten sich ein Outstanding Artist Award des österreichischen Kulturministeriums, ein Nestroypreis in der Kategorie »Beste Regie« für »Tanz. Eine sylphidische Träumerei in Stunts«, der Österreichische Musiktheaterpreis für Tanz und der Deutsche Theaterpreis Der Faust für »Ophelia’s Got Talent« hinzu. Ziemlich beeindruckend, oder? »Ja, ich weiß nicht«, gibt sich Holzinger zurückhaltend. »Ich komme aus einem experimentellen Kontext. Insofern bedeutet, Preise zu erhalten, dass man im Kommerz angekommen ist. Deswegen ist das schon mit Vorsicht zu genießen.« Allerdings helfe es natürlich bei Förderungen und generiere auch eine gewisse Öffentlichkeit. »Wir genießen es, dass wir gefühlt nicht nur die Kunstbubble bei uns im Publikum sitzen haben. Da kommt mittlerweile sogar die Nachbarin von irgendwem, der das empfohlen hat, die noch nie im Theater war.«
Die Kunstbubble zu durchbrechen, heißt auch, den Zuschauer*innen körperliche Grenzerfahrungen zu vermitteln und die Zurschaustellung von weiblicher Fetischisierung offensichtlich zu machen. Beides sind wiederkehrende Elemente im Œuvre Holzingers. Ein Fokus, der auf ihre eigenen Erfahrungen zurückgehe, denn: »Ich musste lange daran arbeiten, mich mit meinem postpubertären Körper anzufreunden.« Andererseits habe sie in ihrer Beschäftigung damit ein sehr konstruktives und untrügliches Ausdrucksmittel gefunden. »Man sieht dem Körper sehr viel an. Er lügt nicht.« Sie habe sich äußerst obsessiv damit auseinandergesetzt, mit dem Körper und seinen Grenzen zu experimentieren. »Als Tänzerin hatte ich schon immer einen großen Technikkomplex. Ich sehe mich nicht als eine virtuose oder technisch extrem versierte Tänzerin. Das war ein Konflikt für mich.« Letztendlich habe sie einen sehr spielerischen Umgang damit gefunden. »Weil das System, in dem der Körper operieren muss, eh scheiße ist.«
Feminismus ohne Schubladen
Besonders »scheiße« sei das System auch für Frauen, deren Körper von der Gesellschaft genauer unter die Lupe genommen werden. »Man hat immer eine Art manipuliertes Selbstbild«, reflektiert Holzinger. »Solche Manipulationen beschäftigen mich und ich habe sie zur Technik erkoren.« Dass man sie als feministische Künstlerin bezeichnet, sei ihr wichtig, aber es sei auch schnell pauschalisierend. »Meine Arbeit wird sowieso in zu viele Schubladen gesteckt.« Die Zuschreibung sei dennoch »ein willkommenes Nebenprodukt«.
Hin und wieder, so verrät sie, landeten ihre Performances auch mal auf Pornoseiten. Ob sie das nicht störe? Wegen ihres Teams müsste sie da aufpassen, aber: »Mir selbst ist das scheißegal. Ich wünschte, ich könnte damit dann mehr Geld machen«, sagt sie mit einem belustigten Zwinkern. »Alle wollen ja ständig Sex sehen. Der ist noch immer ein Tabu. Deswegen beschäftige ich mich gerne mit solchen Themen, weil es den Leuten sehr schwerfällt, hier ehrlich Stellung zu beziehen.« Viele seien hilflos, wenn sie mit realen Körpern konfrontiert sind. »Das finde ich spannend. Das hat Potenzial.«
International ist Holzinger inzwischen auch schwer gefragt. Sie hat viele Shows in Deutschland gespielt. Ihre »Etüden« inszeniert sie in Ländern wie Norwegen, Polen oder auch schon mal Japan. Merkt sie denn einen kulturellen Unterschied in den Reaktionen? »Es wäre seltsam für mich zu sagen, meine Arbeit sei österreichisch, weil ich ja extrem international arbeite, unter anderem auch mit den Leuten in meinem Cast«, setzt Holzinger an. »Aber natürlich habe ich das Gefühl, dass ich meinen kulturellen Hintergrund nicht ganz wegschalten kann. In Deutschland gilt meine Arbeit schon als spezifisch österreichisch. Deswegen kommt sie, glaube ich, dort so gut an.« Das Klischee, dass alles, was aus Österreich kommt, rotzig und charmant ist, hält sich eben hartnäckig.
Prekäres Scheitern
Inzwischen sind wir an den Baustellen vorbei zum Brunnen am Mozartplatz vorgedrungen. Über dem Wasserstrahl thronen die Figuren Pamina und Tamino aus »Die Zauberflöte«. Darunter verbiegt sich Holzinger, Haare und Kleidung bereits klatschnass. Wie kann sie sich bei den ganzen Erfolgen, die sie feiert, überhaupt in so eine Figur wie Sarah hineinfinden, die nach dem Karriereaus als Kämpferin mit sich selbst hadert? »Ich habe das Gefühl, ich kenne mich beim Scheitern aus«, sinniert sie. »Die Möglichkeit ist immer präsent und auch etwas, mit dem ich gerne flirte.« Sarah sei einfach in einer prekären Lebenssituation. »Sie weiß einerseits überhaupt nicht, was sie machen soll. Andererseits lässt sie sich dann auch gerne auf das Angebot ein und überlegt nicht lange.«
Dieses Scheitern – und Ayubs Inszenierung – gefiel auch beim Filmfestival von Locarno, wo »Mond« seine Weltpremiere feierte: Der Film wurde mit dem Spezialpreis der Jury, dem Europa Cinemas Label Prize, dem Boccalino d’oro Prize der Independent Film Critics sowie einer Special Mention seitens der Ökumenischen Jury ausgezeichnet. Ist das nicht Motivation, im Fach Schauspiel noch weiter die Fühler auszustrecken? Vom Aufwand her, ja. »Es war extrem angenehm, dass ich selbst nicht die Verantwortung für das künstlerische Produkt hatte«, erinnert sich Holzinger an die Dreharbeiten. »Wenn ich an meinen eigenen Shows arbeite, dauert das schon mal zwei Jahre. Als Schauspielerin wird man für einen Monat irgendwo eingeflogen, eine andere Person sagt, was man machen soll, und einem wird Kaffee gebracht. Deswegen sage ich auch immer, dass sich das wie Urlaub angefühlt hat«, fügt sie grinsend hinzu.
Wie maßgeschneidert
Allerdings profitierte »Mond« eben davon, wie leicht Holzinger in ihre Figur fand. »Wer wird jemals wieder eine Rolle so auf mich zuschneidern, außer ich selbst?«, sagt sie schmunzelnd, bevor sie ernster wird: »Viele Leute haben mich schon gefragt, ob wir nicht eine Doku über meine Arbeit machen könnten.« Für sie sei das ein Albtraum, sie habe aber durchaus damit geliebäugelt, einmal einen Film zu drehen – »ob ich da selbst zu sehen sein werde, weiß ich nicht.«
Doch schon während wir uns verabschieden, ist es schwer vorzustellen, dass Holzinger nicht in irgendeiner Art und Weise in einer eigenen Filmarbeit auftreten würde. Immerhin hat die Künstlerin auch keine Absichten, der Bühne als Performerin jemals den Rücken zu kehren. »In meiner Arbeit sollen alle möglichen Körper präsent sein. Wenn wir alle 80 sind, wollen wir auch noch urarge Sachen machen. Der Körper verändert sich beständig. Aber das ist ja auch das Spannende daran.«
»Mond« mit Florentina Holzinger in der Hauptrolle feiert heute im Rahmen der Viennale seine Österreichpremiere. Der Film startet am 31. Oktober 2024 in den österreichischen Kinos. Am 14. November findet eine von The Gap präsentierte Sondervorstellung im Votiv Kino in Wien statt – inklusive anschließendem Publikumsgespräch mit Regisseurin Kurdwin Ayub. Wir verlosen Tickets unter www.thegap.at/gewinnen.