Frei?Schwinger – Sophie Hirsch »Chair #14«

Mit ihren auf mehreren sinnlichen Ebenen erfahrbaren Skulpturen und Installationen berührt Sophie Hirsch Fragen nach dem Verhältnis von Psyche und Physis einerseits sowie Individuum und Gesellschaft andererseits.

© Sophie Hirsch »Chair #14«, Vienna Collectors Club, 2024; Foto: kunstdokumentation.com / Sophie Hirsch / Bildrecht

1927 wurde in Stuttgart innerhalb weniger Monate die heute berühmte Weißenhofsiedlung gebaut. Dieser Stadtteil, damals im Zuge der Werkbund-Ausstellung »Die Wohnung« entwickelt, steht heute paradigmatisch für eine neue Art des Bauens und Gestaltens, die üblicherweise »modern« genannt wird. »Modern« bedeutete damals wie heute vor allem »funktional«.

Teil dieser Ausstellung war auch ein neuartiger Stuhltypus: der Freischwinger. Erste Modelle eines solchen gehen auf den niederländischen Designer Mart Stam zurück, aber heute werden vor allem Marcel Breuer, der für die Firma Thonet in den folgenden Jahren mehrere Freischwinger-Modelle entwarf, und Ludwig Mies van der Rohe, der im Jahr der Weißenhof-Ausstellung seinen MR20 vorstellte, für die Popularisierung des Freischwingers verantwortlich gesehen. Die Sitz- und Lehnflächen waren in diesen Modellen allerdings nicht – wie im vorliegenden Fall – aus pieksigen Massagebällen gefertigt, sondern aus Leder oder Korbgeflecht.

Das neue Ich

Die Wiener Künstlerin Sophie Hirsch greift die Idee der Funktionalität in ihrer Adaption des Freischwingers auf. Ebenso lassen sich ihre Objekte auf die Vorstellung einer Wechselwirkung von (Wohn-)Design und psychischer Verfasstheit ein. Immerhin standen auch die Weißenhofsiedlung und das gesamte Projekt der Moderne unter dem Zeichen, einen »neuen Menschen« hervorbringen zu wollen.

Knappe 100 Jahre später durchdringt dieser Anspruch weite Teile unserer Lebensrealität, nur dass der »neue Mensch« mittlerweile vor allem als »neues Ich« gedacht wird. Nicht zufällig spricht die zeitgenössische Werbung für Fitness-, Wellness- und Self-Care-Programme ihre Zielgruppen oft mit einem direkten »Du« an. Für Sophie Hirsch liegt in dieser Ansprache, die ein bestimmtes Mindset propagiert, eine Gefahr. Denn im Umkehrschluss impliziert die Eigenverantwortung über physische und psychische Gesundheit auch eine »Selbst schuld!«-Haltung gegenüber dem Fall, dass die eigene Verfassung die kultivierten Normen nicht erfüllt. Und so spricht Hirschs Freischwinger gleichzeitig ein Versprechen und eine Drohung aus: Setzt du dich, wird es dir danach besser gehen. Aber setzt du dich nicht?

Sophie Hirsch wurde 1986 in Wien geboren und beschäftigt sich in ihrer künstlerischen Praxis mit Spannungsfeldern zwischen dem Innen und Außen. Für die von 14. März bis 9. Juni im Kunstraum Dornbirn zu sehende Ausstellung der Künstlerin entsteht derzeit eine ortsspezifische Installation.

Unsere Heftrubrik »Golden Frame« ist jeweils einem Werk zeitgenössischer Kunst gewidmet. In The Gap 206 ist dies: »Frei?Schwinger« von Sophie Hirsch.

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