Christoph Prenner bewegen bewegte Bilder. Diesmal beobachtet er, wie sich in »Sentimental Value« transgenerationales Trauma in den Raum eingeschrieben hat.

Sich einfach mal hinsetzen und drauflostippen – das ist der große Traum all jener, die eine Kolumne ins Leben heben wollen. Nur bleibt er leider meist unerfüllt. Ablenkung droht schließlich allenthalben. Kaum hat man sich hingesetzt, will logischerweise zuerst einmal passende Musik gewählt werden: Motivierend soll sie sein, aber nicht zu präsent, anregend, aber nicht ablenkend. Nach dem x-ten erfolglosen Versuch mit einem Album oder auch einer Playlist ist man irgendwann dazu verleitet, den allwissenden Algorithmus walten zu lassen.
Doch was liefert mir »Christophs Radio« direkt als einen der ersten Songs? »Bochum (Light Up My Life)« – wohl das am seltsamsten betitelte Liebeslied dieses Jahrtausends, das ich ebenso lange nicht mehr gehört habe wie den Namen der dahinterstehenden Band: Six by Seven. Sogleich findet man sich lost im Pop-Rabbit-Hole wieder: Gibt es die Truppe überhaupt noch? Und wenn eh gerade alle Welt über »6-7« redet – die einen angewidert, die anderen belustigt –, wären diese Kollegen nicht geradezu prädestiniert für die nächste komplett random Wiederentdeckung à la Kate Bush und »Running up That Hill«? Überlegt euch das doch, Tastemaker*innen!
Da wir uns hier ohnehin schon am Numerischen abarbeiten: Auch Jeff Bridges tat dies kürzlich – um genau zu sein, in Bezug auf das Boxoffice. Auf den schleppenden Start des rezenten dritten »Tron«-Teils angesprochen, meinte die Hollywood-Legende, dass man sich bitte vom Eröffnungswochenende nicht täuschen lassen solle. Denn kein Kassenergebnis sage etwas über den langfristigen künstlerischen Wert eines Films aus. Wie Bridges selbst vom Original-»Tron« wohl nur zu gut weiß.
Das Verhältnis von Reputation und Rentabilität ist sicherlich ein Dauerbrenner im Kulturdiskurs. Erstaunlich ist jedoch die Hysterie, mit der das Thema aktuell angerissen wird, selbst von Menschen, die vorgeben, Kino zu lieben: Die Erregungsökonomie in Kommentarspalten lässt jedes nur halbwegs moderate Einspielergebnis zum Offenbarungseid gerinnen. Dabei werden mitunter gar gezielt Flops herbeigeschrieben, nur um sich der eigenen Distinktionshoheit weiter versichert zu wissen. Zuletzt traf es selbst Paul Thomas Andersons »One Battle After Another«: das große Meisterwerk des Jahres 2025, das man als selbsternannter Gourmet des Mediums aber naturgemäß nicht einfach gut finden, sondern höchstens süffisant unter Hinweis auf die »enttäuschenden Zahlen« rezipieren darf.

Wert: sentimental
Wenn sich die Güte eines Films, wie der Dude ja bereits mutmaßte, nicht an Return-on-Investment-Kennzahlen bemisst, sondern in den unvergesslichen Momenten liegt, die von Mund zu Mund und von Herz zu Herz weitergetragen werden, dann sieht die Situation für Joachim Triers jüngste, vermutlich vielsagend betitelte Arbeit »Sentimental Value« gar nicht so schlecht aus.
Das Werk, das am 5. Dezember bei uns startet, sorgt seit Cannes für Begeisterung und löste auch bei der Viennale den lautesten Applaus sowie das kräftigste Seufzen des Festivals aus. Im inoffiziellen vierten Teil seiner Oslo-Trilogie knüpft Trier an dessen grandioses Abschlusskapitel, den internationalen Überraschungserfolg »Der schlimmste Mensch der Welt«, an – dies gelingt ihm auf beeindruckende Weise auch nahezu auf Augenhöhe. Wieder mit Renate Reinsve in der Hauptrolle nimmt der Norweger mit bemerkenswert souveräner Leichtigkeit einen komplexen Stoff ins Visier, der sich mit Themen wie Kunst, Entfremdung und Vergebung beschäftigt. Ja, mitunter meint man gar, in dieser tragikomischen Familienaufstellung eine bergmaneske Aura schimmern zu sehen.
In gewohnt magnetischer Manier porträtiert Reinsve eine aufstrebende Theaterschauspielerin mit Neigung zu Neurose und Panikattacke, deren entfremdeter Vater – eine von Stellan Skarsgård verkörperte alternde Regieikone – nach dem Tod der Mutter ungebeten wieder in ihrem und dem Leben ihrer Schwester auftaucht. Geplagt von Schuldgefühlen wegen vergangener Verfehlungen, bietet er ihr die Hauptrolle in seinem neuen, autofiktionalen Projekt an. Sie lehnt allerdings sofort ab. Auch wenn sie ahnt, dass ihr Vater – wie sie selbst – auf die Kunst angewiesen ist, um mit anderen in Verbindung treten zu können, übersteigt dieses Friedensangebot ihre emotionalen Reserven. Schließlich wird die Rolle mit einer Hollywood-Diva mit Arthouse-Ambitionen (Elle Fanning) besetzt, die fortan im alten Familienhaus vor der Kamera steht. Bis sich dort zwangsläufig nie ganz verheilte Wunden öffnen und familiäre Traumata Schicht für Schicht freigelegt werden.

Thema: transgenerational
»Sentimental Value« zeigt letztlich, wie sich Geschichten über Generationen hinweg wiederholen, ja vielleicht sogar wiederholen müssen – zumindest in ihren Dynamiken: Sie spiegeln und überlagern sich, bauen aufeinander auf, insbesondere, wenn sie sich in denselben Mauern abspielen. Wie schon in Mascha Schilinskis verwandtem Juwel »In die Sonne schauen« werden auch hier diese steinernen Speicher von Erinnerung zu Resonanzräumen, in denen Zeiten und Perspektiven untrennbar ineinanderfließen, Vergangenes nahtlos in Gegenwärtiges übergeht.
Und wenn sich schließlich doch die emotionalen Schleusen öffnen, geschieht dies ohne Pathos, sondern mit jener stillen Empathie, die das Kino von Trier zu einer so besonderen Erfahrung macht. »Zärtlichkeit ist der neue Punk«, ließ dieser in Cannes ausrichten. Es klingt wie eine ironische Parole, ist aber vielleicht die wahrhaftigste, nachahmenswerteste, die das Kino dieser Tage zu bieten hat. Oder, um es mit einem weiteren eigentümlich betitelten Song von Six by Seven zu sagen: »I O U Love«. Vielleicht ist ja auch das eine Erkenntnis von bleibendem Wert, die es weiterzutragen lohnt.
Christoph Prenner plaudert mit Lillian Moschen im Podcast »Screen Lights« zweimal monatlich über das aktuelle Film- und Seriengeschehen. Unser Kolumnist ist per E-Mail unter prenner@thegap.at zu erreichen. Ein Archiv seiner Kolumne und der bisherigen Podcast-Episoden findet sich auch unter www.screenlights.at.