Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“ erweist sich in der Bühnenversion als universelle Reflexion über Freiheit, Schuld und Liebe. Erst recht in der zeitgemäßen Diplominszenierung von Josua Rösing.
Immerzu und überall
Neben Schauspiel kann man am renommierten Max Reinhardt Seminar in Wien auch Regie studieren. So wie Josua Rösing, der für seine Diplominszenierung ein Sück Weltliteratur für die Bühne adaptierte. An fünf Abenden vor Weihnachten war „Karamasow – Eine Beichte“ in der Neuen Studiobühne im Palais Cumberland zu sehen. Deren Möglichkeiten wurden im Beziehungsreigen des Romans bzw. des Stücks voll ausgeschöpft.
Obwohl die Studiobühne einen ebenerdigen, großflächigen Bühnenraum besitzt, konzentriert sich der Aktionsradius der Darsteller in den ersten zwei Dritteln des Stücks auf den Zwischenraum zweier Stuhlreihen, die gleich vor der Zuschauertribüne aufgebaut sind. In der ersten Szene ist hier das Refugium von Fjodor Karamasow, den seine beiden Söhne Iwan und Dimitri dort nur aufsuchen, um ihren Erbteil einzufordern. Den Zuschauer verwundert es wenig, wird der Vater nach der exaltierten Intonierung von „I Would Do Anything For Love“ doch als lauter, ordinärer und selbstgefälliger Tyrann vorgestellt, den Martin Schwanda Taschentuch wedelnd und von Stuhl zu Stuhl springend mit einer Prise Wahnsinn verkörpert. Am meisten zu spüren bekommt diesen Smedjakow, Fjodors Diener und (wahrscheinlich) unehelicher Sohn. Er ist es schließlich, der Fjodor tötet, obwohl der älteste Sohn Dimitri des Öfteren gedroht hatte, seinen Vater umzubringen.
Die Dramaturgie bis zu diesem Wendepunkt spiegelt sich auch in der Bühnenarchitektur und –nutzung wider. Mit Mordgedanken im Kopf brach zuvor Mitja, so Dimitris Spitzname, aus der begrenzten Bühne aus und brüllte mit einem Megaphon vom Balkon über der Bühne auf seine Geliebte Gruschenka und das Publikum herunter. Nach dem Vatermord wird die Ordnung erst einmal ganz zerstört, die sauber aufgestellten Stühle von den Darstellern umgeworfen und kreuz und quer im Raum verteilt. Kurz darauf werden sie gestappelt zur Gefängniszelle Mitjas. Die Ordnung muss wieder hergestellt und ein Schuldiger gefunden werden.
Eine weitere Besonderheit an Rösings Inszenierung ist, dass es kein Hinter-der-Bühne gibt. Die Schauspieler bleiben zu jedem Zeitpunkt in ihrer Rolle, was konstante Konzentration fordert. Denn auch wenn sie gerade nicht szenisch agieren, stehen sie im Hintergrund vor dem beleuchteten, großflächigen Foto einer Winterlandschaft. Wie verwaiste Avatare in einer Cyberwelt wirken sie, wenn sie zwischen starren Posen wechselnd den Charakter und Gemütszustand ihrer Figuren darstellen.
Gestern und heute
Deren Antrieb ist Liebe in verschiedensten Formen bzw. deren Mangel. Fjodor und Mitja buhlen beide um Gruschenka, die ihre Jugendliebe nicht vergessen kann. Iwan verliebt sich in Katja, Mitjas Verlobte. Die fühlt sich als Mitjas moralische Retterin.
Abgesehen von Mitjas Anekdoten aus seiner Militärzeit und der Gegenüberstellung des Intellektuellen Iwan und des einfachen Arbeiters Smedjakow finden sich kaum eindeutige Hinweise auf den historischen Kontext der Romanvorlage, den Dostojewski Ende des 19. Jahrhunderts in Russland schrieb, als dort marxistische Theorien sehr präsent waren. Neben des universellen Themas Liebe verstärkt das reduzierte Bühnenbild die zeitliche Unbestimmtheit, was gleichzeitig Distanz und Nähe zum Publikum schafft. Warwara, die Erzählerin in der Funktion eines griechischen Chores, überbrückt diese, indem sie die Zuschauer direkt anspricht – wenn die Figuren selbst es nicht tun. „Wie soll man leben?“, fragt sie. Wenngleich mit Aljoscha, dem dritten bzw. vierten Bruder eine Figur, die eine religiöse Weltanschauung verkörpert, wegfällt, wird Gott v.a. durch den Atheisten Iwan als moralische Instanz diskutiert – und mit ihm die Moral gänzlich verneint. Und doch klagt Iwan mit seiner Version des Michael Jackson-Songs „We Are The World“ den Missbrauch von Kindern an.
„Wer kann von sich behaupten, dass er glücklich ist?“ Kein Gott stürzte Mitja, Gruschenka, Katja und Iwan in ihr Unglück. Es sind andere unkontrollierbare Faktoren, wegen der die Überlebenden in einer Situation verharren, in der sie sich gegenseitig unglücklich machen. Das scheinbar größte Problem, der Vater, ist beseitigt, sein Mörder richtete sich selbst. Aber während Mitja als Häflting keine Wahl hat, verweilen sowohl Gruschenka, als auch das Paar Katja und Iwan in seiner Nähe. Liebe, Schuld und Hass – Gefühle oder „der Affekt“, wie Warwara die Gewalttat erklärt, siegen manchmal über die Vernunft. Das Dilemma ist das des (scheinbar) selbstbestimmten Menschen, für den seit der Aufklärung keine Hoffnung mehr auf ein Deus Ex Machina besteht und über den trotzdem unausweichliche Tragödien hereinbrechen.