Sieben Jahre nach »Retromania«: Simon Reynolds im Interview – Dämonen und digitale Wesen

2011 ist Simon Reynolds’ leidenschaftlich diskutiertes Standardwerk »Retromania« erschienen. Vieles sieht der Autor und Kulturjournalist heute anders und optimistischer. Mit The Gap sprach er – anlässlich eines Talks, für den er zum Donaufestival nach Krems kommen wird – nicht nur über Zeitlichkeit und Innovation im Pop, sondern auch über Medien, Magie und Politik.

© Adriana Bianchedi

Seit »Retromania« erschienen ist, sind fast sieben Jahre vergangen. Du beschäftigst dich also immer noch mit diesem Thema?

Seitdem gibt es viel mehr Musik, die versucht, futuristisch oder zumindest modern zu sein, insbesondere im Hip-Hop. Einer meiner Lieblingskünstler heißt Future. Wie viele Rapper benutzt er Autotune bei seinen Vocals, aber auf interessante Weise, nicht um sie perfekt klingen zu lassen, sondern um sie zu verfremden. Damit klingt er gewissermaßen wie ein digitales Wesen. Es fügt der Stimme aber auch eine gewisse Sprödigkeit und Emotion hinzu, wie Blues-Singen für die Ära, in der man Menschen auf Tinder trifft. Diese Musik handelt in gewisser Art von dem sehr digitalen Leben, das wir führen. Nicht unbedingt direkt, obwohl es einen Rap-Song namens »Down In The DM« über Sex und das Abschleppen von Frauen über Direktnachrichten gab. Aber meistens fühlt man durch die Musik: Wir sind digitale Wesen in einer digitalen Welt.

Sogar in der Indie-Szene – im Buch habe ich sehr viel darüber geschrieben, wie Hipster-Musik am meisten retro war, voller Kitsch-Ästhetik und verblichener Sounds. Seitdem gibt es auch mehr linke Indie-Musik, die clean, digital und auf gewisse Weise überladen klingt. Ich habe mir einen Begriff für diese Ästhetik ausgedacht: Digital Maximalism. Es ist fast so, als würde die Musik unter den Unmengen an Optionen leiden, die man heutzutage mit digitaler Soundproduktions-Software hat.

Als ich dieses Buch schrieb war ich ziemlich deprimiert darüber, was in der Musik los war. Aber alles, worüber ich in »Retromania« geschrieben habe, passiert immer noch. Es gibt Filme wie »Ready Player One« oder Serien wie »Stranger Things« mit starken Retro-Elementen. Die Mode ist immer noch sehr im Retro verhaftet. Es gibt auch Dinge, von denen ich damals nichts wusste, z. B. Hologramme von mittlerweile toten Performern. Das ist wirklich gruselig. Einerseits ist es zwar auch futuristisch, weil digitale Technologie genutzt wird, aber andererseits ist es irgendwie nekrophil.

Wo du diesen Aspekt schon erwähnst: Marshall McLuhan spricht von elektrischen Medien als eine Art Rückkehr zu einer Stammeskultur, was u. a. eine magische und mystische Art der Erfahrung beinhaltet. Hast du auch den Eindruck, wir leben mit den neuen Medien wieder mehr in einer Welt voller Geister, Mythen und solcher Vorstellungen?

Es fühlt sich schon so an, als wäre die Kultur irrationaler geworden und dass die Menschen glauben, was sie glauben wollen, z. B. diese Verschwörungstheorien. Eine Verschwörungstheorie ist im Grunde eine moderne Form von Dämonologie. Man sagt, dass das, was schief läuft, kein Umstand aus verschiedenen logischen Gründen ist, sondern von einem böswilligen Wesen hervorgerufen wird. Verschwörungstheorien sind auf gefährliche Weise im Zusammenhang mit Trumps Aufstieg oder dem Brexit verbreitet worden.

Das Phänomen des Positiven Denkens hat mein Interesse geweckt, weil Donald Trump nicht nur an Positives Denken glaubt, sondern als Kind war Norman Vincent Peale, der das Buch »The Power Of Positive Thinking« schrieb, Priester in seiner Gemeinde. Im Grunde beruht das Prinzip auf magischem Denken: Wenn du an etwas nur fest genug glaubst oder es dir vorstellst, wird es wahr werden. Diese Art von Glauben ist mehr oder weniger die vorherrschende Ideologie der amerikanischen Gesellschaft.

In meinem letzten Buch über Glamrock habe ich viel über »Fame« geschrieben. Ich glaube, »Fame« ist eine verschobene Form von Royalismus. Früher glaubten die Menschen, Könige wären außergewöhnliche, göttliche Wesen. Heute denken die Menschen von berühmten Leuten auf diese Weise. Darin liegt ein Überbleibsel magischen Denkens. Es könnte sein, dass uns die Technologie empfänglicher für Bilder und Dinge, die über den Verstand hinausgehen, gemacht hat. Viele politische Kampagnen funktionieren über Bilder und Slogans, die nicht wirklich etwas mit Argumenten, einer politischen Idee oder etwas anderem zu tun haben, das den Verstand adressiert.

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