Balkanmusik bezeichnet viel mehr als nur eine Schublade der Weltmusik. Wenn es um den Balkanboom geht, geht es auch um Klischees, Mauerfall, Balkanmeile, Ost Klub, Roma-Blasmusikkapellen und Parallelgesellschaften. Buchautorin Regina Sperlich hat mit uns über die Szene in Österreich gesprochen.
Balkanmusik hat in Österreich eine lange Tradition. Erstaunlich dabei war allerdings, dass es trotz eines regelrechten Booms seit Ende der Neunziger Jahre nur eine relativ geringe mediale Aufmerksamkeit dafür gab. Obwohl in Wien viele Musiker daheim waren und es eine Art Drehscheibe dafür war, obwohl es Festivals und Locations gab, obwohl diese Musik einzigartig für diese Gegend war – im Unterschied zu Techno, Indierock und Pop – und wohl auch deshalb in seiner Breite international wahrgenommen wurde.
Die Palette der Musik, die von Gastarbeitern mit nach Österreich gebracht wurde, ist breit. Sie reicht von traditioneller, über neukomponierte Volksmusik bis hin zum Jugo-Rock, der im Tito-Jugoslawien gefördert wurde, um eine übernationale, oder eben nationale jugoslawische Identität zu schaffen und zu fördern. Musiker aus der zweiten oder dritten Generation haben oftmals die Musik ihrer Eltern und Großeltern aufgegriffen – in der Club- oder Diskoszene, die meist mit der sogenannten “Balkanmeile” in Wien assoziiert wird. So fanden auch neue Musikgenres wie der Turbofolk Einzug. Und abseits dessen etablierte sich Balkanmusik aus seiner ehemalig ethnischen Musiknische heraus vor allem auch als ein Subgenre der Weltmusik. Hierbei spielten die Studentinnen und Studenten aus den Balkanländern, die nach Wien oder Graz kamen, um Musik zu studieren, eine wesentliche Rolle.
Über den Boom von Balkanmusik in Österreich hat Regina Sperlich zusammen mit Andreas Gebesmair und Anja Brunner ein Buch geschrieben, das soeben erschienen ist. Wir haben Regina Sperlich zum Interview getroffen.
Warum spricht man überhaupt von einem „Balkanboom“, wann und wie kam es dazu?
Wir haben eine Zeitungs- und Zeitschriftenerhebung über den Zeitraum von 1990 und 2009 durchgeführt, die uns den Balkanboom in Österreich anhand eines deutlichen Anstiegs von Veranstaltungen mit Balkanbezug zwischen 2000 und 2008 zeigt. Zum Beispiel fanden sich im Jahr 2006 300 Hinweise darauf. Sechs Jahre zuvor waren es noch 53. Weitere Anzeichen waren 2004 die Gründung das Balkan Fever-Festivals Wien durch Richard Schuberth und Norbert Ehrlich und des Ost Klubs durch Matthias Angerer, die beide Balkanmusik eine wichtige Bühne boten.
Durch die Balkankriege sind Leute verschiedener Nationalitäten doch sehr aufgespalten, gibt es da wirklich eine Balkanmusik? Wie stark ist die Differenzierung hier?
Nein, es lässt sich nicht von einer einheitlichen Balkanmusik sprechen. Balkanmusik – als Sublabel der World Music– ist quasi eine Schublade, mit der verschiedene Musikstile mit Balkanbezug vermarktet werden. Wichtig sind nicht zuletzt geographische Bezüge (also die Länder des Balkans), der historische Einfluss des osmanischen Reichs auf die Kultur in der Balkanregion und die Musikpraktiken der Roma in Südosteuropa. Es waren schließlich Roma-Blasmusikkapellen, die als erstes europaweit unter dem Label Balkanmusik vermarktet wurden, wie zum Beispiel die rumänischen Gruppen Taraf de Haïdouks und Fanfare Ciocărlia und das serbische Boban Marković Orkestar. Diese Gruppe trat auch im Film „Underground“ von Emir Kusturica auf (für den der Komponist Goran Bregović den Soundtrack machte), der das Label Balkanmusik bzw. das, was wir in Europa darunter verstehen, ebenfalls stark mitprägte.
Einen einheitlichen Balkanmusik-Begriff hat es auch nie gegeben – auch vor den Balkankriegen nicht. Obgleich es im ehemaligen Jugoslawien mit „Jugo-Rock“ einen transjugoslawischen Musikstil gab, der durch den Zusammenbruch Jugoslawiens seinen Nährboden verlor. Aber diese Musik wurde nicht als Balkanmusik bezeichnet. Bereits hier war Goran Bregović als Bandleader von Bijelo Dugme, eine der populärsten Jugo-Rockbands, prägend.
Die Balkanmusikszene ist ja alles andere als einheitlich. Da gibt es Jazzgrößen wie Martin Lubenov oder Adrian Gaspar und Musiker, die eher eine tanzbare Populärmusik machen, wie Shantel oder DJ Dunkelbunt. Wie vernetzt ist diese Szene eigentlich?
Die Netzwerkanalyse auf Basis der Daten unserer Zeitungs- und Zeitschriftenrecherche zeigt: Von rund 650 MusikerInnen, die als Mitglied einer Band oder als GastmusikerIn bei einer CD-Produktion oder einem Live-Auftritt mit anderen kooperierten, bilden rund 400 Personen ein verbundenes Netzwerk. Bestimmte Personen nehmen darin zentrale Positionen ein, wie zum Beispiel der bulgarische Akkordeonist Martin Lubenov. Er war auch ein Mitglied der Wiener Tschuschenkapelle in Wien und dem Sandy Lopicic Orkestar in Graz. Von beiden Bands nahmen etliche Projekte und Kooperationen ihren Ausgang, wie zum Beispiel mit dem deutschen DJ und Produzenten Shantel, der ein Aushängeschild der Balkan-Club-Szene ist. Viele Musiker und Musikerinnen, wie eben Martin Lubenov, der Trompeter und Hornist Alexander Wladigeroff, (z. B. Fatima Spar & The Freedom Fries und bei Wladigeroff Brothers & Band), und der Bassist Jovan Torbica (Wiener Tschuschenkapelle, Dela Dap) sind trotz festem Standbein im Balkanjazz auch in anderen Stilen und Subfeldern der Balkanmusik verortet, vor allem der traditionellen Balkanmusik und Balkanclubmusik.