Äh, okay, also ich fang dann mal an. Im September kann man beim Steirischen Herbst eine ewiglange, ziemlich lustige Performance anschauen von einer Truppe aus New York, Nature Theater of Oklahoma. Die machen so Ur-Normcore-Theater.
Zu Papier gebrachte, gesprochene Sprache ist schwer zu ertragen. So gesehen macht die New Yorker Performance-Gruppe Nature Theater of Oklahoma unerträgliches Theater. Basis für ihre Stücke bilden Telefongespräche, die eins zu eins auf der Bühne nachgesprochen werden, Füllwort für Füllwort, Äh für Äh, und das gerne und oft stundenlang.
Zwänglerisches Zufallstheater
Entstanden ist diese Theatertechnik, die zum Alleinstellungsmerkmal taugt, aus einer Not heraus: Nachdem die Gründer und Masterminds der Truppe, Kelly Copper und Pavol Liska, mehrmals daran scheiterten, ein ordentliches Script für ihre nächstes Stück zu fabrizieren, riefen sie Freunde an und baten diese um eine spannende Story. Am Ende hatten die beiden mehr als hundert Stunden Telefonmaterial beisammen. Sie filterten die absurdesten Geschichten heraus und begannen mit Hilfe eines Spielkartendecks, den einzelnen Kapiteln drei Bewegungsmuster und dreizehn Spielszenarien zuzulosen. Eines dieser Muster war inspiriert von wildem Discofox, ein anderes von den Gesten, welche die ausschließlich slowakisch sprechende Mutter von Pavol Liska verwendete, wenn sie versuchte, sich im Ausland verständlich zu machen. Zusätzlich musste jeder Schauspieler in einem anderen, schwer verständlichen Akzent sprechen. Das Endprodukt hieß "No Dice", dauerte fast vier Stunden und wurde 2007 zum großen Hit am Off-Off-Broadway.
So zufällig dieses Stück entstanden war, so sehr beharrte das Regisseurs-Ehepaar auf Einhaltung des Regelwerks: Während der Vorstellungen wurde die Akteure permanent über Headset korrigiert, besonders wurde auf die exakte Nachahmung von Tempo und Duktus der Aufzeichnungen geachtet.
Survival-Tipps von John Cage
Auch die Verbindung zu den von John Cage entwickelten Zufalls-Kompositionsmethoden drängt sich auf: Cage begann in den 60er Jahren, Stücke unter anderem mit Hilfe eines chinesischen Orakelbuchs oder mit Münzwerfen zu schreiben. Dieser Konnex wird vom Nature Theater of Oklahoma auch immer wieder betont. So wurde etwa bei den ersten Aufführungen von "No Dice" lange Passagen eines Gesprächs von Cage mit seinem Freund und Kollegen Morton Feldmann abgespielt. In dieser dreistündigen Konversation beschäftigen sich die beiden großen Komponisten unter anderem mit der Frage, wie man dem allgegenwärtigen Lärm der damals neuen Transistorradios beikommen könne. Cages Lösungsansatz war so simpel wie genial: "Wie ich mich mit dem Radio-Lärm arrangiert habe? (…) Ich hab einfach ein Lied mit Radios komponiert. Wann immer ich jetzt eines höre, denke ich mir bloß ‚Sie spielen meinen Song!’" Dem Alltagslärm entkommen, indem man ihn sich zu eigen macht – eine weitere Parallele zwischen dem Jahrhundertkomponisten und dem New Yorker Theaterensemble. Die intimen Geständnisse des U-Bahn-Sitznachbarn, die dieser mittels Freisprecheinrichtung oder, auch ganz super, via iPad-Face-Time-Telefonat in die Welt hinausträgt, künstlerisch zu verwerten – das ist eine urbane Überlebensstrategie, die man sich zweimal anschauen sollte.
Zur Spitze getrieben hat das Nature Theater of Oklahoma – der Name stammt übrigens aus Franz Kafkas unvollendet gebliebenem Roman "Amerika" – dieses Konzept mit ihrer 2009 begonnenen Reihe "Life and Times". Die ursprüngliche Idee war, ähnlich der von "No Dice", die via Telefon erzählten Autobiografien mehrerer Menschen zu dramatisieren. Doch nachdem die erste Probandin, Kollegin und Ensemblemitglied Kristin Worrall, nach mehr als zwei Stunden Gesprächszeit noch nicht einmal mit der Schilderung ihrer Kindergarten-Anekdoten fertig war, modifizierten Liska und Copper ihre Ursprungsidee: Die beiden entschlossen sich, ausschließlich mit der Biografie Worralls zu arbeiten. Am Schluss brauchte Kristin 16 Stunden und zehn Telefondates, um 34 Jahre Revue passieren zu lassen.
Es ist das Leben eines Durchschnittsmenschen, wie wir es fast alle sind, gefüllt mit Erfahrungen, die wir fast alle gemacht haben: Spielzeugneid im Kindergarten, Liebeskummer und Leistungsdruck in der Oberstufe, später Existenzängste, Versagensängste, you name it.