Des Kaisers Herrenhaus

Die alte Pulverfabrik in der Nähe von Wiener Neustadt erzählt noch immer von der finsteren Geschichte der ganzen Region.

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Nur wenige Kilometer von Wien, mitten in der niederösterreichischen Prärie, liegt ein eher unscheinbarer Ort namens Wiener Neustadt. Hauptsächlich bekannt als Industriemekka des Ostens, spielte die Stadt in der Geschichte eine unerwartete Rolle. Nach dem 2. Weltkrieg bis auf wenige Häuser komplett zerstört und zu ewiger Hässlichkeit verbannt, hat ein umliegender Wald still und leise die Spuren der Vergangenheit über hundert Jahre konserviert.

Das Dickicht erstreckt sich soweit das Auge reicht und sobald man mittendrin steht, scheint es einen förmlich zu verschlucken. Der Wald liegt südlich von Wiener Neustadt und vereint die Stadt mit einigen Nachbargemeinden. Die Straße, die direkt neben den Gleisen verläuft, ist ein essentieller Anhaltspunkt auf dieser Reise. Der eher holprige Kieselweg wird auf der einen Seite von dichtem Gestrüpp und auf der anderen Seite von vorbeirasenden Railjets begrenzt. Die Strecke ist abgeschieden und einsam. Die einzigen Personen, die man hier trifft, sind patrouillierende ÖBB-Mitarbeiter, Förster und Selbstmörder.

Nach einer guten halben Stunde führt eine kleine Abzweigung auf einen mit Schlaglöchern übersäten Waldweg direkt ins Dickicht. Es ist eigentlich kaum zu glauben, dass sich hier etwas befinden soll. Im Schritttempo über den unebenen Boden blitzt nach weiteren zehn Minuten tatsächlich eine einzelne, verlorene Zinne über die Wipfel. Löst man den fokussierten Blick, erkennt man durch das dichte Geäst die Umrisse einer stattlichen Ruine. Die Wände sind abgebröckelt, durch das Dach wachsen Bäume und auf der kaum vorhandenen Tapete zeichnen sich blasse, rote Umrandungen ab. Die Ziegel, die am Boden herumliegen sind mit dem Wappen des Doppeladlers geprägt. Was sich hier aus dem Nichts aufgetan hat, ist des Kaisers Herrenhaus.

Eine Stadt wie keine andere

Südlich von Danubien, in den unendlichen Weiten Niederösterreichs, erstreckt sich im Wienerbecken auf einer eher steppenartigen Ebene die zweitgrößte Stadt Niederösterreichs. Wiener Neustadt war und ist eine Industriestadt, die als wichtiger Verkehrsknotenpunkt in so ziemlich alle Himmelsrichtungen fungiert. Heutzutage mit nicht mehr ganz so viel Schönheit gesegnet, ist die Stadt für viele seiner 40.000 Einwohner eine ortgewordene Gratwanderung zwischen Big City Life und Landleben. Ganze 25 Minuten sind es mit dem Zug nach Wien und genauso schnell kann man von dort auch wieder flüchten – praktisch! Obwohl Wiener Neustadt mit seiner etwas espritlosen Existenz und hohen Stadtverschuldung nicht ganz so viel aufwarten kann wie so manch andere Kleinstädte, war genau dieser unscheinbare Ort am Rande Wiens geschichtlich gesehen ein Knackpunkt in beiden Weltkriegen und ist von seiner Vergangenheit bis heute gezeichnet.

In der k. u k. Zeit sowie im dritten Reich galt die Stadt als Hauptlieferant von Munition, Waffen, Autos, Flugzeugen als auch Lokomotiven und hatte Eisenbahnlinien die strategisch gesehen wichtige Güter effizient in viele Teile des Landes und jenseits der Grenzen befördern konnten. Es wundert daher kaum, dass die Alliierten im 2. Weltkrieg vor Wien zuerst Wiener Neustadt durch Luftangriffe wortwörtlich dem Erdboden gleich machten und diese unscheinbare, triste Kleinstadt im Wienerbecken somit in eine traurige Hitliste katapultierten: Top Ten der zerstörtesten Städte des 2. Weltkriegs – nach Hiroshima, Nagasaki, Dresden und Co. Es wundert daher auch nicht, dass man anno 1946 zwischen Trümmern, Schutt und einer Handvoll stehender Häuser knapp davor war, die Stadt an einem komplett neuen Ort wieder zu errichten.

Phönix aus der Asche

Doch Wiener Neustadt hat sich aufgerappelt, am selben Ort wohl bemerkt. Nach dem Wiederaufbau wurden die Tiefschläge überwunden und mit darauffolgenden Generationen neues Leben eingehaucht. Dass die architektonische und geschichtliche Schönheit unter der Vergangenheit gelitten hat, liegt auf der Hand. Neben ein paar Überbleibseln im Stadtzentrum findet man in den umliegenden Feldern und Wäldern kaum noch Relikte aus der tausendjährigen Stadtgeschichte. Dabei hat Wiener Neustadt schon unter Kaisers Zeiten eine prominente Rolle gespielt. Die sogenannte Südbahn, die heutzutage mit dem Railjet in die Steiermark, nach Kärnten und weiter nach Italien führt, verläuft südlich von der Stadt und wurden laut Zeitzeugenaussagen vom Kaiser selbst per Bahn genutzt. Der Wald, der direkt daneben künstlich angelegt wurde, sollte die Stadt nicht nur vor Wind und Wetter schützen, sondern in seinem Inneren so manche Machenschaften vertuschen.

Pulverfabrikruine

Unzählige Bombenkrater in dieser Gegend erzählen ganz ohne Worte ihre eigene Geschichte. Von früheren Generationen zum „Trichterradeln“ benutzt, haben sich die wuchtigen Löcher im Waldboden schon lange mit Grundwasser gefüllt und in paradiesische Teiche verwandelt. Solche Relikte findet man hier allerdings nur, wenn man wirklich danach sucht. Die Ruine, die so verloren durch die Bäume blitzt und heute nur mehr einen Bruchteil seiner Größe vorweisen kann, ist eine von ihnen. Sie wurde 1890 von der schwedischen Nobel Dynamit AG errichtet und war eine voll funktionierende Pulverfabrik der k. u k. Zeit. Im 1. Weltkrieg mit circa 100 italienischen Kriegsgefangenen besetzt, konnte man mit direkter Anbindung an die Hauptgleise das Pulver für Munition und Sprengsätze auf schnellstmöglichen Weg in alle Teile des Kaiserreichs transportieren.

1938 wurde die Fabrik anschließend von der Wehrmacht in ein riesiges Munitionslager umgewandelt und die Anlage in erster Linie für Beutemunition genutzt. Die Nazis errichteten zusätzlich unterirdische Bunker und Baracken in denen feindliche Munition auseinander genommen und wiederverwendet wurde. Auch hier machte man sich den Schutz des dichten Waldes und die strategische Verkehrsanbindung Wiener Neustadts zu Nutze. Gegen Ende des Krieges und vor Eintreffen der Sowjettruppen wurde das Lager geräumt und die Baulichkeiten von den abziehenden deutschen Einheiten gesprengt.

Gebranntes Kind

Heute noch gut sichtbar ist das ehemalige Verwaltungsgebäude, welches mit seiner in die Höhe ragenden Bauform im Spitz einer Art Wachturm ähnelt. Links und rechts des Gebäudes sind an den nackten Wänden noch Spuren des alten Mauerwerks zu erkennen. Es lässt daraus schließen, dass der Verwaltungsteil auf den Seiten noch angrenzendes Fabrikgebäude gehabt haben muss. Auf den zweiten Blick findet man versteckt auf dem Waldboden Einkerbungen ehemaliger Eisenbahnlinien, die anno dazumal zum Transport an die Südbahn angeschlossen waren. Die unterirdischen Baracken der Nazis sind angeblich in ein paar hundert Meter Luftlinie von dem Verwaltungsgebäude noch erhalten, aber stark verschüttet.

Neustädter wissen, dass dieser Wald über die Jahre im Sommer schon öfter gebrannt hat. Der Laie denkt jetzt natürlich an die üblichen Verdächtigen: unachtsame Raucher oder Lagerfeuer-gone-wrong. Aber die Natur vergisst eben nicht. Durch die damalige Pulverproduktion ist der Phosphorgehalt im Waldboden auch heute noch so stark vorhanden, dass besonders in heißen Jahreszeiten erhöhte Brandgefahr besteht. Luftaufnahmen zeigen einen kahlen Ring um das Gebäude, auf dem schon lange kein Baum oder Strauch mehr gewachsen hat. Hier hat sich die Vergangenheit in die umliegende Natur verewigt.

Bei Erkundungstouren der alten Pulverfabrik wird um höchste Vorsicht gebeten, denn Wiener Neustadt und Umgebung sind noch immer stark munitionsverseucht.

Dieser Beitrag ist im Rahmen eines Praxis-Seminars am Institut für Journalismus & Medienmanagement der FHWien der WKW entstanden.

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