„Nuu“ – eine Plattform für junge Künstler startet im Mai mit einem neuen Projekt. Eines, dass ihrer Meinung nach schon längst überfällig ist: Sie holen das Theater in den digitalen Raum.
Mit onlinetheater.live kreieren die Künstler Caspar Weimann und Saladin Dellers in Zusammenarbeit mit sechs weiteren Kreativschaffenden ein digitales Schauspielhaus. Gemäß den demokratischen Idealen der Internetgemeinschaft gilt: Offener Zugang für alle, von wo aus auch immer, solang es Internet gibt. Inspirieren lassen sich die Künstler durch das Paradoxon der digitalen Nähe bei gleichzeitiger sozialer Isolation. Mit ihrer Plattform erstellen sie, wie sie selbst sagen, gewissermaßen eine Spielstätte.
Den Auftakt macht die Inszenierung „Werther“, eine moderne Interpretation von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ unter der Leitung von Caspar Weimann. Darauf folgt die Inszenierung „follower“, eine Adaption des Werkes „norway.today“ von Igor Bauersima. Die für das Onlinetheater geschaffene Adaption, geleitet von Saladin Sellers, beruht auf einer wahren Begebenheit. Zwei russische Teenager, verschaffen sich den Zugang zu Waffen, verschanzen sich in einem Haus und lassen ein Online-Publikum per Like darüber entscheiden, ob sie beginnen zu schießen.
Die Vorstellungen werden auf onlinetheater.live zu angekündigten Spielzeiten per Live-Stream zur Verfügung gestellt. Die einzige Barriere für die Zuschauer: Die Seite zu den vorgegebenen Zeiten im Auge behalten. Für uns haben Saladin Dellers und Caspar Weinmann einige Fragen zum Projekt, den gezeigten Stücken und den größten Herausforderungen beantwortet.
Welche Schwierigkeiten hat euch diese neue Form der Online-Inszenierung bereitet – einerseits was die Planung betrifft, andererseits auch, was die Umsetzung, also das Schreiben der Stücke und die schauspielerische Leistung betrifft?
Diese Form bietet natürlich enorm viele neue technische sowie spielerische Möglichkeiten – obwohl, die spielerischen bleiben ähnliche, aber die Entscheidung, welche Technik wir nutzen, beeinflusst natürlich das Spiel. „Werther“ findet zum einen in einem abgeschlossenen Raum statt und zum anderen auf Social Media. Wenn man alleine in so einem Zimmer am Rechner sitzt, dann stellt sich durch die tägliche Konditionierung sofort eine Langeweile oder Untätigkeit ein – eine Inaktivität. Diese ist oft Gift für die darstellerische Arbeit. Die lebt ja vom Gegenteil, vom Handeln. Allerdings ist es beinahe genauso befremdlich, wenn man eine Energie an den Tag bringt, die nicht in den Raum, nicht in die Webcam passt. Der Drahtseilakt ist noch schwieriger, als man das von der klassischen Guckkastenbühne kennt.
In der Produktion „Follower“ gibt es viele Dinge, an die man denken muss und die Probleme bereiten können. Wir konzentrieren uns während dem Stück nicht nur aufs Spiel, sondern auch darauf, keinen Unfall zu bauen, die Kameras richtig zu halten, das Mikro nicht zu verdecken, die Kontrolle zu behalten und zusätzlich nicht zu vergessen, dass das Material, was wir senden, noch live geschnitten wird. Man braucht ein riesiges Maß an geteilter Aufmerksamkeit – viel mehr als es bisher im Job nötig wahr. Wir fahren da ja in einem Auto, es kann wirklich was ernstes passieren, wenn wir nicht konzentriert bleiben und uns zu sehr im Spiel verlieren. Wenn wir allerdings nicht genug ins Spiel einsteigen, wird das Ergebnis einfach langweilig.
Was die Vorproduktion angeht, muss man es schaffen, sich vollkommen auf eine neue Form einzulassen. Viele Dinge, die im Theater funktionieren, funktionieren bei Onlineinszenierungen nicht oder anders. Das muss man akzeptieren, im Kopf dynamisch bleiben, sich nicht in eine Inszenierungsidee verlieben und lange dran festhalten, wenn es nicht klappt. Es lebt vom Probieren, die neue Form muss erst erobert werden.
Inwiefern baut eure Performance auf bestehenden Wahrnehmungstraditionen des Theaters auf und womit möchtet ihr bewusst brechen?
Also grundsätzlich orientieren wir uns an „klassischen“ Theatern. Wir haben ein Theaterhaus, in dem es mehrere Bühnen gibt. Unser Haus ist unsere Homepage und unsere Bühnen sind die verschiedenen Streamingplattformen, die wir bespielen und die eingebettet sind auf der Homepage.
Und was die Stücke selbst angeht, da ist es eigentlich genau das gleiche. Das onlinetheater.live ist ein Theater in einem Raum, mit eigenen Regeln und Gesetzen, mit Menschen, die Geschichten haben … Es ist in allen Merkmalen ein Theater, nur nicht in der analogen, sondern in der digitalen Welt und die ist ja auch existent. Man kann die Inszenierungen nur an einem bestimmten Zeitpunkt sehen, man muss sich einklicken, kann die Vorstellung verlassen, kann sich im Foyer – bei uns ein Chat – darüber austauschen und könnte sich theoretisch auch mit einmischen – per Livechat. Nach einer Stunde oder anderthalb ist das Stück vorbei und man geht wieder raus aus dem Theater.
Natürlich bietet uns das inhaltlich mehr Möglichkeiten – wir können krasser sein, radikaler. Der Zuschauer oder die Zuschauerin kann das Fenster schließen, die Leute können schneller aussteigen, rausgehen, sich entscheiden wegzuschauen. Im analogen Theater braucht es erst einmal Überwindung und dann eine gewisse Zeit, um den Raum tatsächlich verlassen. Im onlinetheater.live ist man anonym, man kann sich der Sache zu jedem Zeitpunkt entziehen – ohne, dass Saaltüren knallen. Man kann sich nicht bei den anderen Zuschauern absichern, ob die eigene Reaktion angemessen ist oder nicht. Man muss selbst Haltung beziehen.
Beide Stücke „werther“ und „follower“, thematisieren Gefühle über die Sinnlosigkeit des Lebens in der Pubertät. Ist dieser Themenschwerpunkt, sowie das Verfolgen von Sehnsüchten und die Flucht vor gesellschaftlichen Erwartungen etwas, was ihr explizit an der „Parallelwelt Internet“ kritisieren möchtet?
Das stimmt nicht ganz. Es ist viel mehr die Sehnsucht nach Sinnhaftigkeit, es ist ein Überlebenskampf. Das ist ein großer Unterschied, eigentlich sogar genau das Gegenteil von Sinnlosigkeit und Todessehnsucht. Es ist der Lebenswille. Es geht um Wissensdurst, in beiden Stücken geht es darum, Dinge zu begreifen, zu verstehen. Bei „Follower“ wird in die Vergangenheit gereist, bei „Werther“ in die Gegenwart. Was alle Rollen eint, ist gerade eine Sehnsucht nach einer Absolution – und das ist ganz mutig. Das sind auch genau die Themen, die uns an den Vorbildtexten interessiert haben. Verleugnen können wir natürlich nicht, dass in allen Textgrundlagen suizidale Fälle behandelt werden. In unseren Stücken ist bisher noch kein Suizid geplant – aber mal schauen, was passiert. Wir propagieren eher Interesse an der Welt und Freude an der Erfahrung als Unmut und Depression.
Mit der Parallelwelt Internet hat das weniger zu tun als mit den Menschen, die in dieser Welt existieren. Wir verteufeln diese Welt keinesfalls. Manchmal kritisieren wir ihren Umgang damit und die Kommerzialisierung des ganzen. Allerdings ist die Krankheit unserer Zeit die Depression. Die Ursache dieser weit verbreiteten Depression auf das Internet zu schieben ist einfach, aber falsch. Vielleicht ist es eine Art Angst, wo man jetzt im globalisierten Zeitalter mal so richtig die Kraft der Welt und die wahre Vielfalt, die eben auch schrecklich sein kann, spürt. Aber darin die Chancen zu suchen, darin den Menschen zu finden und über Menschen zu erzählen, das ist Ziel unserer Beschäftigungen.
Inwiefern schafft das Onlinetheater „Nähe“?
Dem kann ich die Frage entgegensetzen, inwieweit ein Skype-Gespräch Nähe schafft oder inwieweit ein intensiver Chat Nähe schafft oder inwieweit Dating- oder Pornoportale Nähe schaffen. Das wird jeder Mensch anders beantworten. Für die einen ist es eine totale Nichtbefriedigung, weil man jemanden sehen aber nicht anfassen kann. Für die anderen sichert es den Kontakt zu geliebten Menschen. Für wieder andere hält es den Kommunikationsstrom zu den Leuten aufrecht, mit denen man Zeit verbringen will. Für wieder andere ist es eine revolutionäre Form der Beziehung, lieber digitale Objekte als Partner zu lieben.
Im allerbesten Fall schaffen wir dem Theater an sich Nähe zu neuen Zuschauern, die damit sonst nichts zu tun haben.
Inwiefern seht ihr euer Onlinetheater als eine Symbiose der Gattungen Film und Theater? Wie unterscheiden sich die Rezeptionsformen?
Wir nennen es ganz bewusst Theater. Zum einen, weil wir selbst Bezug zur Kunstform Theater haben und totale Theaternarren sind und nicht davon loskommen und zum anderen, weil wir ein Theater als ein Forum seiner Wirkzeit sehen, welches im Moment und mit dem Moment umgeht. Es findet im Jetzt statt, es ist live. Es ist ein Theater, das die coolen technischen Möglichkeiten des Films nutzen kann, oft auch die Ästhetiken. Deshalb ist das Wort „Symbiose“ ziemlich gut. Es nutzt die fetten Sachen von beidem.
Theatralität im Internet: Ist das Onlinetheater eine Persiflage auf den Inszenierungscharakter des Internets, den man vor allem in Sozialen Medien findet?
Manchmal ja und manchmal nein. Also, es ist eigentlich ganz einfach. Wir machen ein Theater im Internet. Und zum Internet gehört auch diese übertriebene Selbstinszenierung, die einige machen – wir ja alle letztendlich. Es wird Momente geben, wo wir genau die zum Thema machen – oft hat Social Media ja so krass theatrale Merkmale. Die nutzen wir natürlich, ja… aber eben nicht nur.
Aktuell findet man auf der Homepage bereits einen kleinen Vorgeschmack: Eine „sich ständig aktualisierende Ausstellung über das Internet“ zeigt kuratierte Gif-Kunst und im Foyer kann man sich schonmal vorab über das Programm austauschen. Das erste Stück wird am 24. Mai um 22 Uhr gezeigt.