Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst. Diese klugen Worte von Franklin D. Rossevelt sind kompletter Irrsinn, haben wir festgestellt. Bester Beweis: unser Alphabet der Angst.
Asymmetriphobie
Wenn der morgendliche Blick in den Spiegel zum Horrortrip wird, muss das nicht unbedingt heißen, dass man hässlich ist – sondern einfach nur ziemlich irre. Asymmetriphobiker haben eine Heidenangst vor allem, das keine Symmetrie aufweist – seien es schiefe Nasen, ungleich lange Augenbrauen oder ausgefranste Emo-Frisuren. Lösungsansätze: Apple-Produkte, eine Schönheits-OP für sich selbst und seine Freunde oder ein Besuch beim Analytiker des Vertrauens.
Bateman, Patrick (© Concorde)
Lass dir gesagt sein: Dein austauschbares Hipster-Leben aus dekadenten Partys, bedeutungslosem Sex und superreinem Koks muss nicht im Suizid enden. Nimm dir ein Beispiel an Patrick Bateman, dem sympathischen Yuppie aus Breat Easton Ellis’ Meisterwerk "American Psycho", und lass einfach mal deine ganze Erste-Welt-Frustration raus, bevor du durchdrehst. Wenn Phil Collins hören, Visitenkarten vergleichen und Models Rohrreiniger in ihre Vaginas pumpen deinem Leben keinen Sinn geben sollten, kannst du immer noch damit anfangen, die Welt zu retten.
Clocktower (© ASCII Entertainment)
Existenzangst deluxe: Das Point-and-Click Adventure "Clock Tower" von 1995 lehrt dich permanente Panik. Ein durchgeknallter Psychopath namens Scissorman hat es sich zum Ziel gesetzt, dich brutal zu ermorden. Deine Aufgabe: Überleben und fliehen. Immer wieder verfällt man in Panik oder muss sich im Fluchtmodus dem Scissorman entkommen. An jeder erdenklichen Stelle kann deine letzte Stunde geschlagen haben.
Dubstep
Das metaphysische Unbehagen hat sich vor etwa zehn Jahren in Südlondon einquartiert und ist unter dem Namen Dubstep in die Welt ausgezogen, um mit 145 bpm deinen Überlebenswillen im Stroboskop-Licht auszutesten. Wer keinen epileptischen Anfall bekommen hat, hat sich fortan mit der Frage quälen müssen, warum danach auch noch Twostep, Halfstep und Post-Dubstep einem still und heimlich die Jugend aus dem Körper gezehrt haben.
Elementarteilchen 03 MP (© Constantin Film)
Der 1998 erschienen Kultroman des französischen Islamophobikers Michel Houellebecq wirkt auch heute noch hervorragend als natürliches Depressivum für alle, die ihre Existenz einmal so richtig in Frage stellen wollen. Das Drama der Menschheit wird hier kalt und kurz erklärt: Der Materialismus hat alle Werte zersetzt, die 68er-Bewegung brachte nichts als Geschlechtskrankheiten und der Teufel liegt in der Freiheit des Individuums begraben. Der einzige Ausweg: Die Auslöschung der Geschlechtlichkeit. Denn ohne Penis und Vagina lebt es sich glücklicher.
Forever Alone Guy
Memes sind hip, cool und lustig. Ganz besonders der Forever Alone Guy. Er sagt dir: Wach auf, keiner liebt dich und deine um Verständnis und Mitleid winselnde Art. Weinerliche Facebook-Postings lassen sich mit ihm ideal beantworten, denn immerhin vermittelt er zugleich abwertende Distanz und existentielle Nähe. Nur insgeheim wissen wir, dass dieser aufgedunsene, mitleidserregende Wurm in jedem von uns steckt. Deshalb drücken wir stattdessen manchmal sogar auf Like.
Gangnam Style
K-Pop könnte sich zum Unwort des Jahres 2012 avancieren – denn mit "Gangnam Style" sind die Grenzen des guten Geschmacks verschoben worden. Der weltbekannte Trash des hypomanischen Rappers Psy rüttelt an den Grundfesten von Adornos Musiktheorie. Man kann es drehen und wenden wie man will – Gangnam Style ist nicht lustig. Trotzdem lachen wir über den dicken Koreaner mit den schicken Tanzbewegungen, der mit unserem Zynismus Millionen verdient, während bei uns der Exekutor im Rudolfsheim-Fünfhaus-Style an der Tür klopft.
Homeland
Umgedrehte amerikanische Soldaten, die aus dem Irak heimkehren, um ihr Mutterland von innen zu zerstören. Eine Hauptdarstellerin, die ihre manisch-depressiven Psychosen dafür nutzt, Recht und Ordnung wiederherzustellen. Man weiß nicht, was mehr Angst macht – die Paranoia im Außen, die in "Homeland" als unsäglicher "Krieg gegen den Terror" publikumsgerecht inszeniert wird, oder der Wahnsinn im Inneren, der mit der bipolaren CIA-Agentin Carrie Mathison eine heroisch-heldenhafte Note zugesprochen bekommt.
Die unscharfen Handycam-Fotos, die man mit seinem überteuerten iPhone schießt, in sozialen Netzwerken mit seinen Freunden zu teilen, sind eine Sache. Diese Ausgeburten der Alltagsödnis mit Retro-Farbfiltern noch eine Spur unschärfer zu machen und dabei so zu tun, als ob man zum Fotokünstler avanciert wäre, wird einem schon bald noch viel peinlicher sein. Seriously: Instagram ist das furchteinflößendste Massenphänomen seit dem Tamagotchi.
Joy Division
Der Post-Punk von Joy Division mag musikgeschichtlich tief mit der No-Future-Ästhetik der frühen 80er verwachsen sein – dennoch trifft er heute genauso eisig-monolithisch ins Herz wie vor 30 Jahren. Beziehungen werden immer in die Brüche gehen und Liebende sich stets verraten: "Why is it something so good just can't function anymore?" Ganz schlimm wird es, wenn man in der ganzen Traurigkeit auch noch eine Lösung raushört – nur weil sich Ian Curtis an einem Strick in seiner kleinen Wohnung irgendwo in Manchester vor der Angst davonstahl.
Kirche der Angst (© David Balzer)
Aktionskünstler und Nichtraucher Christoph Schlingensief hat seinem Lungenkrebs ein Oratorium gewidmet: "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in Mir" ist Requiem, Messe, künstlerische Eitelkeit und Fegefeuer in einem. Dabei werden bloßgestellte Wunden offen gelegt, vor denen man am liebsten die Augen verschließen möchte – da jeder instinktiv weiß, dass man hier an einem Projekt teilnimmt, das auch einen selbst früher oder später einholen wird.
LoL
Auf den ersten Blick ist "League Of Legends" – unter Game-Nerds umgangssprachlich "LoL" – ein MMORPG wie jedes andere. Auf den zweiten Blick wird es schon spannender, da es nicht so quietschbunt wie "World Of Warcraft" ist und sein dummes Spielprinzip mit einer Ernsthaftigkeit vorgetragen wird, die Mainstream-Kiddies abschreckt. Auf den dritten Blick bemerkt man dann, dass man seine Partnerin, seine Freunde und seinen Arbeitsplatz verloren hat, da man die letzten Monate damit verbrachte, sein Leben zugunsten einer Bildschirmexistenz vor die Hund gehen zu lassen. Wer zuletzt lolt, lolt am besten.
Melancholia (© Zentropa)
Hätten Depression und Wahnsinn nicht die Namen, die sie tragen – man würde sie "Lars" und "von Trier" nennen wollen. "Melancholia" erzählt die Geschichte einer gescheiterten Hochzeit, von Lügen, Liebe und Verrat – und dann geht langsam und unaufhaltsam die Welt unter. Die cineastische Meditation über existentielle Leere, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit ist Abstraktion und Exempel zugleich: Große Kunst, die uns mit der Erkenntnis, das keine Erlösung naht, herzhaft auf die Fresse haut.
Neverland (© Shazari)
Das ewige Kind im Mann ist aus dem Häuschen: Es gibt einen Ort, da wirst du niemals alt, da bist du nie allein. Es gibt keinen Verrat, keine Lügen, keine Angst. Was für die Nazis Neuschwabenland war, war für Michael Jackson Neverland: Ein Wirklichkeit gewordener, in sich stimmiger Irrsinn, der zwar auf Außenstehende abschreckend wirkt, für die eigene Welt aber dem Sinn des Lebens erschreckend nahe kommt.
Österreich
"Österreich ist ja auch das Keimbecken der Wahnsinnigen!", schreibt mir eine Freundin aus Weimar. Deshalb verdient sich dieses kleine Land auch sein eigenes A-Z, findet sie – und schreibt mir folgende Liste: Amstetten / Bernhard / Czeschka / Deix / Esterhazytorte / Fritzl / Gemeindebau / Hitler / Inzest / Jungbauernfest / Kronen-Zeitung / Leistungsträger / Musil / Novotny / Ortstafeln / Parteibuch / Qualtinger / Raiffeisen / Schubert / Trakl / Unschuldsvermutung / Vielvölkerstaat / Wittgenstein / Xenophob / Ybbs an der Donau / Zillertaler Schürzenjäger. Die Freundin aus Weimar weiß, wovor sie Angst hat.
Peevee (MDVP)
Für jene unter euch, denen LSD zu blumig und Meth zu gesund erscheint, gibt es endlich Erlösung: Methylendioxypyrovaleron, kurz MDPV oder auch "Peevee" genannt. Die Designerdroge, die Hauptbestandteil diverser legaler Badesalz-Mischungen ist, weckt den Charles Manson in euch. In Internetforen erzählen sich User von "Schattenmenschen", die aus den Ecken ihrer Wände herauslugen und Würmern unter der Haut. Horrortrip gefällig?
Quarktasche (© Van Robin)
Mit den Numerus-Clausus-Flüchtigen ist auch sie eingetroffen: Die Quarktasche. Als Synonym für die fortschreitende Germanisierung unserer Gesellschaft bereitet sie dem hauptberuflichen Österreicher Unverständnis, Ärger – und Angst. Wenn dann noch Hackfleisch, Hefe und Saure Sahne in den Einkaufskorb wandern, greift sich auch die weltgewandteste Supermarktverkäuferin an die Aprikose.
Retromania
Wer authentisch sein will, ist Retro. Alles ist ja bereits gesagt und getan worden. Heute tun wir nicht einmal mehr so, als wäre das falsch. Wir hängen in der Wiederholungsschleife fest. Wenn das Beste, was die Gegenwart zu bieten hat, eine Glorifizierung der Vergangenheit ist, steht es wirklich schlecht um uns.
Steampunk
Bleich geschminkte Gesichter, dunkle Lederanzüge, viktorianische Korsettromantik und Retro-Futurismus nah an der Grenze zur NS-Ästhetik machen Steampunk zu dem, was es ist: einem peinlichen Eskapismus für Leute, die sich vor der Zukunft von Heute fürchten. Cyberpunks würden die Jungs und Mädels mit ihrem Datasetten-Modem vermöbeln.
Tweenwave
Tweenwave ist die dominierende Musikrichtung der Zehnerjahre; sie kombiniert poppige Kack-Beats mit Vocals, die so klingen, als ob jemand abwechselnd auf ein Mikro scheißen und furzen würde. Justin Bieber und Rebecca Black haben die Southpark-Folge, in der Tweenwave zum neuen Trend erhoben wurde, eine Spur ernster genommen als der Rest. Dahinter steckt aber auch die Angst, dass einen eines Tages nichts mehr begeistert. Pffffffrzzzzzt!
Urzeitkrebse (© Hans Hillewaert)
Yps ist wieder zurück! Und mit ihm die Urzeitkrebse. Eine Packung Nahrung und eine Packung Mikroben laden dich dazu ein, eine Reise zurück in die Kindheit zu machen, damit diese Angst vor der Gegenwart verschwindet. Nur verschlucken sollte man die Urzeitkrebse nicht, Ridley Scotts "Prometheus" zeigt, wohin das führen kann.
Vice
Hochqualitativer Journalismus zeigt dir, wie uncool du eigentlich bist. Die Wichsvorlagen in der Mitte sind eigentlich Modestrecken. Die Interviews dienen dazu, deine Einfältigkeit bloßzustellen. Albumkritiken machen dir klar, wie langweilig es in deiner Mittdreißiger-Studenten-WG ist. Do’s und Dont’s werden wie auf Cäsarenwahn im Kolosseum vergeben. Und dann bekommst du auch noch erklärt, warum Arsch die neue Muschi ist. Wie soll man da keine Angst bekommen?
Witchhouse
Witchhouse war vorbei, noch bevor es überhaupt angefangen hatte. Zombie-Rave, Horrorsamples, Drones, Angstschweiß, Aleister Crowley-Zitate, okkulte Symbole und Dreiecke – das war schneller austauschbar als man nur Alt+t drücken konnte. Angst konnte man dennoch bekommen – das neueste Ding zu verpassen, wie sehr jeder meinte, sein Sätzchen dazu abgeben zu müssen, oder wenn man eine dieser Bands einmal live erlebte.
Xanax
Die Angst ist die ständige Suche nach der Sicherheit. Jeder trägt eine Angst in sich. Das weiß auch die Pharmalobby. Deren Geschenk an uns nennt sich Alprazolam und wird unter dem Namen Xanax weltweit millionenfach geschluckt. Das angstlösende Sedativum macht die Welt eine Spur freundlicher – und deprimierte Hausfrauen, melancholische Metzger und grantige Pensionisten zu wohlig gurrenden Kätzchen.
Youtube
Youtube bringt nicht nur Fernsehanstalten ins Schwitzen und Urheberrechts-Vertreter zum staunen. Nein – es ist der Grund, warum Angst immer siegen wird. Youtube setzt da an, wo Fernsehen aufhört. Es entzaubert die Welt mit einem Mausklick. Das Panoptikum aus Trash, Musikclips, Filmtrailern und jugendlichen Selbstdarstellern ist das MTV von heute.
Zahntechniker (© apa)
Seien wir uns ehrlich: Zahntechniker sind Menschen, die Unbehagen auslösen. Eigentlich sollte man eine Partei gründen, deren einziger Grundsatz es ist, alles Schlechte im Leben auf sie zu schieben. Immerhin macht Österreichs oberster Zahntechniker HC Strache genau das mit Ausländern. Deshalb: Für Österreich, gegen Zahntechniker. Oder so.
Ja – Angst ist sehr real. Sie hat einen festen Boden unter den Füßen. Privat, gesellschaftlich, in der Popkultur, Fest steht: Wir alle haben Angst. Um uns abzusichern verweigern wir uns der Angst, nehmen Medikamente, machen Therapien, Yoga, Selbstfindungskurse oder vielleicht sogar Kunst. Wir werden vom Leiden und von den Ängsten anderer angezogen wie Motten vom Licht – vielleicht, weil die fremden Ängste den unseren ähneln, oder aber weil sie die eigene zu verkleinern scheint. Romane, Songs, Theaterstücke, Installationen, Videospiele – sie alle spielen mit unseren Ängsten, mit Perspektiven und dem Auge des Betrachters. Ängste sind ständig da, in uns und um uns – und trotzdem ist darüber reden immer auch ein Tabubruch.
Die Inspiration für unser Alphabet der Angst wurde von 45 Studenten aus Berlin und Halle zusammen getragen, die sich gemeinsam mit ihrem Professor in einem alten Gutshaus inmitten dunkler Wälder einsperrten, um ihren real existierenden oder frei erfundenen Ängsten nachzugehen. Lexikalisch definiert, mit ausdrucksstarken Illustrationen versehen und im Kontext einer textlich-visuellen Auseinandersetzung publiziert, ist das eben erschienene "Taschenlexikon der Angst" bizarr, lustig, besorgniserregend und real in seiner Irrealität.
Fast so sehr wie unser eigenes – Horror-Soundeffekte an – Alphabet der Angst.
Die Inspirationsquelle für unsere Gallery, das "Taschenlexikon der Angst", ist bereits im Verlag Hermann Schmidt erschienen.