Am Mittwoch, dem 29. September, wird twenty.twenty zum ersten Mal stattfinden. Fragestellung ist klassisch: "Wo sehen wir uns in 10 Jahren?". Inhalte sind zeitgemäss: Kommunikationstechnologien, Identitätsfindung im Informationszeitalter und Verwandtes. Hier der Versuch produktiv beitragend zu sein via assbiting toiletpaper.
In the year 2020
Leider werde ich nicht persönlich an der offenen Diskussionen teilnehmen können [1], daher freut es mich umso mehr, dass ich zumindest etwas zur blog parade beitragen kann. Die Organisatoren der Veranstaltung haben eine sehr weitreichende Thematik für das erste twenty.twenty gewählt. Der Klugscheisser in mir fühlt sich berufen zu jedem Teilbereich seinen Senf abzugeben. Aber das lassen wir mal lieber bleiben, obwohl assbiting toiletpaper ja durchaus als aussagefreie Zone betrachtbar ist. Nicht hingegen als meinungs- oder inhaltslos. Entgegen meiner üblichen Tendenz ins Philosophische abzuschweifen, denke ich, dass dieses Mal ein "nuts & bolts" Zugang die zweckdienlichere Methode ist. Ergo versuche ich mich mal an der Umreissung meiner Ansichten zu folgender Frage: Welche Kommunikationstechnologien werden im Jahr 2020 relevant sein, warum und was könnte das für uns im Alltag bedeuten?
Einleitendes
Bitte ein wenig Geduld aufbringen, denn ich muss drei Sachen und ein Addendum vorweg in den Raum stellen:
1.) Google hat vor kurzem ihr Transparency Report Tool der Öffentlichkeit zugänglich gemacht;
2.) in den U.S.A. hat die FCC die letzten Regelungen für die Benutzung von "white spaces" bekanntgegeben;
3.) die geo- und sozio-politischen Ausmasse des Konzepts der "network society", wie von Jan van Dijk 1991 ausgelegt (und noch viel früher in anderer Form bereits ein Kernthema der Soziologie und Anthropologie war), erreicht die Wahrnehmung (link via futurismic) der Mainstreamforschung.
Und ergänzend meine Meinung, dass Zukunft als Lebenskonzept kein finaler, zu erreichender Zustand oder Zeitpunkt ist, sonder ein fortlaufender Prozess, angelehnt an Bruce Sterling, der dies unermüdlich wiederholt und am poetischsten (aber nicht zum ersten Mal) wohl in diesem Zitat aus "Shaping Things" (MIT Press, 2005): "Our names are not nouns, but verbs.". Offensichtlich halte ich das alles für sehr wichtig, sonst würde ich es nicht vorausschicken. Und jetzt wird es wirklich spannend, denn nun werde ich versuchen Schritt für Schritt mit Hilfe dieser drei Infoböller eine mögliche Zukunftsprojektion zu entwerfen. Auf geht’s.
Access Some Areas
Identität ist ein recht schwieriger Begriff – Ritchie Pettauer hat das im Rahmen dieser blog parade bereits thematisiert – dennoch traue ich mich zu behaupten, dass Kommunikation einen essentiellen Bestandteil sowohl in der individuellen, wie auch der sozialen Identitätsfindung darstellt. Demzufolge darf man auch nie unterschätzen wie schwer die verschiedenen, zur Verfügung stehenden Modi der Kommunikation wiegen. Geographische Distanzen werden von verbindenden Technologien wie dem Telefon relativiert, teilweise sogar unbedeutend gemacht. In jüngster Vergangenheit hat das Internet ebenfalls zeitliche und inhaltliche Schranken drastisch verkürzt oder gar (beinahe) aufgehoben.
Die Krux der Sache: Zugang. In assbiting toiletpaper #012 hielt ich kurz eine Kerze an diesen Umstand: anscheinend haben zur Zeit gerade mal etwas mehr als ein Viertel der Weltbevölkerung Zugang zum Internet. Und Googles Transparency Report Tool zeigt auf, dass dort wo Zugang besteht, dieser nicht zwangsläufig uneingeschränkt ist. Man kann argumentieren, dass es immer schon eine Diskrepanz der verschiedenen Kommunikationstechnologien gab, global betrachtet. Sprache, Schrift, Reisende, später Telefon – nicht überall war alles im gleichen Ausmass und zur gleichen Zeit verfügbar. Allerdings ist der Kommunikations-Paradigmenwechsel im Fall des Internets schneller und drastischer.
Das mag für die Einzelperson nicht zwingend ein Drama sein, aber für das soziale Gefüge der Welt sehr wohl. Und als menschliches Individuum existiere ich ja nicht im luftleeren Raum, sondern in einem menschlichen Umfeld. Gut, Internet in klassischer Form ist vielleicht ein wenig problematisch. Anders sieht es aber schon bei mobiler Telekommunikation aus.
Mein Mobiles Ich
Laut ITU gibt es zur Zeit rund 4.1 Milliarden Menschen mit Zugang zu mobiler Telekommunikation, rund 60% der Weltbevölkerung, Tendenz steigend. Mobile Telekommunikation ist demnach also die Weltkommunikationstechnologie der Mehrheit, im Gegensatz zum Minderheitentool Internet. Wer aufgepasst hat, wird jetzt schon wissen, warum ich am Anfang den FCC Link ausgespuckt hab. Weil, wird die schlaue Leserschaft sagen, man ja auch via Handy oder SmartPhone oder wie immer man das auch nennen will, das Internet ansteuern kann. Uuuuuuund… weil die mobilen Zugangsmöglichkeiten rasant schneller, leistungsfähiger, massentauglicher und vor allem kostengünstiger werden, wie am Beispiel der freigemachten white spaces in den U.S.A. schön sichtbar wird.
Eine mögliche Interpretation dieser Vorgänge für das Jahr 2020 könnte so lauten: Im Jahr 2020 werden mehr als 80% der Weltbevölkerung mobile Telekommunikation nutzen und auch in der Lage sein mit ihren mobilen Endgeräten Zugang zum Internet zu erhalten. [2]
Wir sprechen also von mobiler, globaler Kommunikation mit potentiell dem grössten Teil der Menschheit. Als Individuum steht man jetzt schon vor der Option nebst einer (oder mehrerer) Internetpräsenz(en) auch eine mobile Identität zu projizieren. 2020 wird das wahrscheinlich noch verschärft, weil (wie es sich ja jetzt schon abzeichnet) die verschiedenen Identitäten näher zusammenrücken, ganz zu Schweigen von der Fragestellung der sogenannten Privatsphäre, Definition von und Anspruch auf diese. [3] Noch näher zusammenrücken werden dadurch auf jeden Fall auch die Kommunikationsprozesse zwischen den Menschen – aus top-down kontrollierten Nationen werden multi-layer Netzwerke.
Neues Netzwerk
So könnte es meiner Ansicht nach im Jahr 2020 aussehen: Eine Gesellschaft, in der mobile Kommunikation weltweit alle Prozesse durchdringt, das mobile Endgerät zum technischen und sozialen Interaktions-Universalwerkzeug gewachsen ist, klassische System des Nationalstaats zusehends an Bedeutung verlieren und von vernetzten lokalen und globalen Varianten ausgetauscht werden. Für mich, für mein "Ich 2.0", hört sich das gar nicht so schlecht an.
Ich denke an Augmented Reality Echtzeitinformationen für meinen Alltag – vergleiche Charlie Stross in seinem Roman "Halting State" oder auch Jamais Cascio bei einem (eher schlecht geführten) [4] Interview für BNN – und an direkten Zugang zu den systemischen Prozessen meiner Regierung oder meines Netzwerks – zum Beispiel die Fortführung von Projekten zur verbesserten Transparenz von Regierungen. Natürlich denke ich auch an die Schattenseiten, wie erhöhte Überwachungsmöglichkeiten unerwünschter Art, Zusammenbruch einiger bisher etablierter Handelswege (und damit einhergehender Interaktionen) und noch mehr Future Shock, als wir es ohnehin jetzt schon beobachten können.
Finde Dein Ich 2.0
Es wird nicht leicht werden im Jahr 2020 sein "Ich 2.0" zu finden – ausser man ist in diese Generation geboren, denn, wie Alan Kay so schön gesagt hat: "Technology is anything that wasn’t around when you were born." – zwischen den immer dichteren Informationswäldern und kürzeren Interaktionswegen. Eines, was wir dabei aber nie vergessen sollten, und weshalb ich anfangs Bruce Sterling zitiert habe und weshalb ich auch das Konzept von twenty.twenty gutheisse, ist, dass wir nicht ein klar definiertes Ziel erreichen wollen, sondern die Gegenwart so gestalten sollten, dass daraus eine neue Gegenwart entstehen kann. Stichwort "sustainability" – Nachhaltigkeit, Bestandhaftigkeit. Noch sieht es nicht so aus, als ob wir als Spezies und Gesellschaft diesen Wandel im Denken vollziehen könnten. Nein, bisher halten wir an kurzfristigen Modellen und Methoden fest. Aber vielleicht können uns die neuen Kommunikationsformen und deren Nachfolger im Jahr 2020 dabei helfen ein "Ich 2.0" zu erschaffen, das dieses Stichwort verinnerlicht hat.
Nuri "werwolf" Nurbachsch
P.S.: Bitte auch die postings von Luca Hammer und Ritchie Pettauer lesen. Und hoffentlich gibt es noch mehr postings in der blog parade, bis ihr dies hier lest.
1] Zur Zeit läuft das bisher überaus sympathische /slash filmfestival. Und gerade am 29.09. werden zwei absolute Highlights über die Leinwand des Filmcasino flimmern: einerseits der ziemlich deftige Horror/Gore-Schocker Srpski Film, bei dem sogar mein Guinea Pig geschulter Magen überredet werden musste, und andererseits der bereits zum Internet-Meme avancierte The Human Centipede (First Sequence).
[2] Ob sie hier allerdings wirklich in der freien Form des world wide web aktiv sein werden oder ob sich die Nutzung des Internets auf Apps verlagern wird, wie einige befürchten/prognostizieren, lässt sich schwer sagen. Das allerdings würde auch noch mal eine grosse Änderung für das "Ich 2.0" (oder eigentlich "Ich 3.0") bedeuten. Wer will mit mir darüber diskutieren?
[3] Noch ein Thema, das ich brennend gerne besprechen würde, vor allem als kickstart-backer des diaspora Projekts, dessen source code Veröffentlichung mit gemischten Meinungen aufgenommen wurde.
[4] Ist das nur meine eingeschränkte Sichtweise der Dinge, dass Journalisten sich zumindest etwas mehr als nur rudimentär bei den Themen, zu denen sie ihre Gäste befragen, auskennen sollten? Insofern nicht verwunderlich, dass Cascio sich hier eine zynische Geste nicht verkneifen kann.