Selbstverständnis ohne Tradition

Was bedeutet es, jüdisch zu sein? Comics suchen seit den 30er Jahren immer wieder Antworten. Vier zeitgenössische Künstler stehen exemplarisch dafür.

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Jüdisch zu sein ist ziemlich komplex. Mal wird man von anderen dazu gemacht, mal wird einem eine Tausende Jahre alte Tradition und Geschichte aufgebürdet. Sich damit zu identifizieren, geht auf unterschiedlichste Arten. Manche betrachten sich als große Gemeinschaft, egal ob säkular oder religiös. Für andere gibt es strikte Trennungen zwischen den diversen Definitionen und Auslegungen. Die Frage nach der jüdischen Identität – und auch nach dem Staat Israel – ist gerade eben für Juden weder banal noch einfach. Eine Reihe jüdischer Comic-Künstler bemühen sich um Klärung. Sie setzen dabei unterschiedlichste Werkzeuge ein, für manche ist es der Blick auf die Menschen, für andere eine Aufarbeitung der Geschichte oder ein biografisches Journal.

Rutu Modan

Rutu Modan wuchs in einem Krankenhaus in der Nähe von Tel Aviv auf. Ihre Eltern waren Mediziner. Wenn schwerverletzte Soldaten oder Opfer von Anschlägen mit Helikoptern ins Krankenhaus gebracht wurden, war das für die kleine Rutu nichts Ungewöhnliches. Vielleicht rührt es daher, dass Modan in ihren Comics selten nach Unterschieden zwischen Jüdin, Moslemin, Israeli und Palästinenserin sucht. Stattdessen richtet sie ihre scharfe Beobachtungsgabe darauf, was diese (vermeintlichen oder tatsächlichen) Differenzen im Leben und in den Beziehungen der Menschen bedeuten. Und damit richtet sie auch einen Blick auf sich selber. In ihrem Graphic-Novel-Debüt "Exit Wounds" macht sie das durch die Augen einer Soldatin und eines Taxifahrers in den Straßen von Tel Aviv. Der Symbolismus ist nicht von der Hand zu weisen, aber anstatt sich in Politischem und Abstraktem zu ergehen, bleibt Modan beim Zwischenmenschlichen. Ihre Figuren sind dem Alltag entnommen und in diesen eingebettet. Wenn also die Soldatin dem Taxifahrer erzählt, dessen Vater wäre wahrscheinlich bei einem Selbstmordattentat ums Leben gekommen, dann passiert das ganz selbstverständlich. Die Wut und Trauer des Taxifahrers sind greifbar, verweisen aber auf das große Ganze. In einem späteren Werk, "The Property", verfeinert Modan diesen Zugang. Hier begleitet sie eine alte Dame und ihre Nichte auf ihrer Reise nach Polen, wo sie ihren ehemaligen Familienbesitz zurückfordern wollen. Die Vorurteile der Großmutter gegenüber den Polen, die Gleichgültigkeit der Nichte gegenüber dem Besitz, die Reaktionen ihrer Familie auf eine romantische Beziehung zu einem jungen Mann aus Warschau und ein Geheimnis ihrer Großmutter – wieder befasst sich Modan mit den Beziehungen der Menschen, sieht darin weit über individuelle Elemente hinaus. Modan nimmt als Mitbegründerin des (mittlerweile aufgelösten) Künstlerkollektivs Actus Tragicus eine prägende und treibende Rolle in der Comic-Kunst Israels ein. In ihren hochintelligenten Storys bildet sie die Schattierungen des Lebens einer jungen Israeli ab, ohne einfache Erklärungen.

Sarah Glidden

Im Gegensatz zu Modan ist Sarah Glidden nicht in Israel geboren oder aufgewachsen, sondern 1980 in Boston, Massachusetts. In ihrer Kindheit hörte sie, wie wichtig Israel für Juden sei, dass es ihre eigentliche Heimat sei, dass sie Israel unterstützen müsse. Später umging sie das Thema, meldete sich aber 2007 für eine Taglit-Birthright-Reise nach Israel an. Taglit-Birthright ist eine Non-Profit-Organisation, die für nicht-israelische jüdische Jugendliche zwischen 18 und 26 Jahren Reisen nach Israel sponsort mit dem Ziel, sie jüdischer Kultur und dem Staat Israel näherzubringen. In "How To Understand Israel In 60 Days Or Less" hielt Glidden ihre Erfahrungen vor, während und nach dieser Reise fest. Vor Reiseantritt stürzte sich Glidden in die Recherche und studierte Unmengen an Material über Israel. Sie ist überzeugt, den Palästina-Konflikt verstehen zu können. Auch wenn sie sich der teils nicht besonders gut getarnten Propaganda erwehren kann, berichtet Glidden dennoch von Momenten, in denen sie plötzlich Sympathie für Positionen verspürt, die sie zuvor noch als unhaltbar empfand. Die Taglit-Birthright-Reise führte sie an historische Orte Israels, an denen sie immer wieder erkennen musste, dass ihre Informationen unvollständig oder einseitig waren. Schlussendlich wird Glidden nicht pro-israelisch, aber sie erlangt ein tieferes Verständnis.

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Bild(er) © Drawn & Quarterly, DC Vertigo, Hill and Wang
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