Mal wieder Zeit einen Blick in die Zukunft zu werfen. Am 19. Oktober steht twenty.twenty unter dem Motto "The City – Networking with Things". Kurz und knapp mein Beitrag zur Blogparade.
Teil 6 der twenty.twenty Veranstaltungsreihe widmet sich dem (scheinbaren) Thema des Jahres: Urbanität. In diversesten Gewändern wurde darüber heuer schon viel gesprochen, geschrieben, gezeigt und gemacht. Menschen mit ADS-E werden tl;dr oder boring oder meh posten und den Machern von twenty.twenty Uninspiriertheit vorwerfen. Eigentlich ist es aber so, dass diese Thematik noch lange nicht ausgeschöpft ist und es etliche Aspekte gibt, die beleuchtet werden müssen. Konkrete Fragestellung bei twenty.twenty: "Smart living im Jahr 2020 – Mehr Lebensqualität für alle?"
Kurz zurück nach 1948
Es ist mir beinahe etwas peinlich, aber ich muss gleich zu Beginn wieder auf einen Begriff und eine Person hinweisen, die schon beim letzten assbiting toiletpaper genannt wurde: Norbert Wiener und Kybernetik. 1948 veröffentlichte er "Cybernetics: Or Control and Communication in the Animal and the Machine." und definierte damit eine Betrachtungsweise.
Na und?
Kybernetik beschäftigt sich mit der Steuerung und Regelung von Systemen, auch im abstraktesten Sinn. Durch diese Brille kann man eine Stadt und die darin lebenden Menschen als kybernetisches, selbstregulierendes System betrachten und sich der Frage auf diese Weise nähern. Mal sehen, was mir dazu an schlauen Sachen einfällt.
Input wird Output wird Input wird Output …
Infrastruktur und Architektur einer Stadt bestimmen massgeblich das Leben der Menschen in dieser. Selbstverständlich sind es aber eben diese Menschen, die ihre Stadt bauen und gestalten. Es entsteht also eine Feedback-Schleife. Bisher war diese aber – aus technischen, systematischen, politischen Gründen – minimiert und unterbrochen, der informative Rückfluss war in beide Richtungen von menschlichen Schnittstellen dirigiert. Resultat: Ungleichgewicht. Kolossale Städte, die mehr Energie schlucken, als sie müssten, Platz verschwenden, in bestimmten Bereichen dem menschlichen Leben sogar entgegenstehen. Wie soll das im Jahr 2020 anders sein?
Vernetzung bringt Lösungsansätze
Die Hoffnung schlummert in den Worten "smart living". Nicht, dass ich davon ausgehe, dass die Menschheit kollektiv an Vernunft gewinnen wird. Von diesem Traum hab ich mich schon längst verabschiedet. Aber neben den Menschen werden auch die Sachen, die von ihnen benutzt werden "schlauer" oder, besser gesagt, vernetzter. Die Feedback-Schleife wird langsam aber sicher immer dichter und präziser. Was wiederum die Menschen, die dieses Netzwerk anzapfen "schlauer" macht und ihnen neue Möglichkeiten eröffnet. Das kann schon in wenigen Jahren massive Änderungen mit sich bringen.
Die Wände haben Ohren. Zum Glück.
Zum Beispiel Energieverteilung. Wär doch fein, wenn die kleinen Chips in meinen Heizkörpern, Gerätschaften und den Wänden meiner Wohnung Echtzeitdaten zu meinem Energieverbrauch sammeln würden, die sich dann mit den Statistiken anderer Wohnung vereinen und den Energielieferanten meiner Stadt handfeste Information zur sinnvolleren Energieverteilung gibt. Womit Alternativen zu fossilen und nuklearen Energiequellen ökonomischer und effizienter werden würden. Und ich müsste weniger bezahlen. Noch besser: Mein Haus (es heisst Theodor) liest diese Statistik auch aufmerksam und erzeugt Energiereservoirs, die je nach Auslastung ausgeschöpft werden können oder dazu dienen andere Teile meiner Lebensgemeinschaft mit Energie zu versorgen.
On the road again
Oder der Verkehr? Was zum Teufel ist bloss los mit dem Verkehr? [Einsatz Seinfeld Melodie.] Strassen und Ampeln, die Echtzeitinfos an Leitstellen, Strassenplanung und Magistrate geben, damit weniger Staus und Verschleiss anfallen? Warum denn nicht. Adaptive Ampelphasen klingen doch besser als stur programmierte Muster. Am besten auch noch Fahrzeuge, die diese Informationen ins Netzwerk speisen (und abends in der Gemeinschaftsgarage von Theodors Energieüberschuss aufgeladen werden).
Menschliche Netzwerke
Und auf keinen Fall auf die Menschen vergessen! Soziales formt Lebensräume, vor allem in der Stadt, wo Lebensnischen beinahe Notwendigkeit sind. Unsere Netzwerke werden aber, wenngleich sie auch nicht neu sind, immer dichter. Zudem erhalten sie einerseits globalen Charakter, während andererseits Hyperregionalität entsteht. Die Verbindungen zwischen den Menschen können sich auf die Dinge in ihrer Umgebung ausweiten und feedback optimieren. Umgestaltungen des Blocks? Neue Parkanlagen? Eine neue U-Bahn Station? Eine kollektive Energiesammelstelle? Im Jahr 2020 könnte das alles vor Ort von den Betroffenen entschieden und in Einklang mit dem ganzen Städtesystem ausgeführt werden.
Wie Stuttgart in 2095
Vielleicht nicht gleich 2020, aber nicht all zu fern sind neue Baustoffe, die langlebiger und robuster sein könnten. Häuserwände, die sich an äussere und innere Wetter- und Luftbedingungen anpassen können um Energieverbrauch zu reduzieren oder Giftstoffe absorbieren. Temporäre Konstruktionen, die nach Gebrauch zu 100% in den Stadtkreislauf zurückgeführt werden können. Es könnte wie eine gelungene Version von Bruce Sterlings Stuttgart aus "Holy Fire" sein.
Und wieder auf die Erde zurück
Gut, ich hab mich ein wenig hinreissen lassen. Klar, all das ist nicht unrealistisch, aber nicht zwingend die Richtung, in die es sich entwickeln muss. Von einer Sache bin ich aber überzeugt: Wenn "smart living" bedeuten soll, dass wir eine Gesellschaft aufbauen, die Nachhaltigkeit und ökologische Verträglichkeit zum Hauptprinzip ernennt, und dass die Vorzüge einer solchen Gesellschaft für alle Menschen zugänglich sein sollen, dann ist ein systematischer, kybernetischer Ansatz meiner Ansicht nach die einzige zweckdienliche Variante. Bright Green, baby, Bright Green.
Und jetzt steig ich von meiner Kanzel herab und überlasse das predigen anderen Leuten. [1] Wir sehen uns beim twenty.twenty!
Nuri "werwolf" Nurbachsch
[1] Diese Fussnote ist Selbstzweck. Hab weder Witziges noch Interessantes beizutragen, aber ein assbiting toiletpaper posting ohne Fussnote war mir zuwider. So.