Die Pressefotografie bewegt sich an der Grenze zwischen Handwerk und Kunst. Zwei Fotografinnen darüber, warum jedes Bild eine Entscheidung ist – und ob sie selbst ihre Arbeit als Kunst verstehen.

An einem regnerischen Abend im September ist die Galerie Westlicht gut besucht. Wie jeden Herbst zeigt das Fotografiemuseum die Ausstellung »World Press Photo«, die Jahr für Jahr die eindrucksvollsten Pressefotografien versammelt. In der Halle ist es trotz der vielen Menschen ruhig. Die meisten bewegen sich zu zweit oder dritt durch den Raum, gehen langsam von Bild zu Bild und unterhalten sich mit gedämpfter Stimme. Wenig unterscheidet die Atmosphäre von jeder anderen Kunstausstellung und dennoch drängt sich eine Frage auf: Sind die ausgestellten Fotos überhaupt Kunst? Schließlich geht es bei der Pressefotografie ja primär um die detailtreue Dokumentation des Zeitgeschehens, weniger um Ästhetik und künstlerischen Anspruch. Oder?
Einer, der darauf eine Antwort haben könnte, ist Heribert Corn. Seit den Neunzigern arbeitet der 61-Jährige als Pressefotograf, vor allem für Falter und Der Standard, aber auch für internationale Medien wie Die Zeit, Le Monde oder Neue Zürcher Zeitung. Corn ist kein gelernter Fotograf, seine Bilder brechen daher häufig mit Konventionen. »Klischees interessieren mich nicht«, sagt er. »Ich mache einfach Fotos, ohne über Regeln nachzudenken.« Bei Fototerminen mit Politiker*innen fotografiert er statt deren Gesichter gerne ihre Hände oder Schuhe. Lachend erzählt Corn, wie er einmal Vivienne Westwood hinter einer Mauer fotografiert habe, sodass die Modedesignerin nicht zu sehen gewesen sei.
Sind solche avantgardistischen Entscheidungen für ihn Kunst? »Ich bin Handwerker, kein Künstler«, entgegnet Corn prompt, um dann doch noch einmal über die Frage nachzudenken. Er druckst etwas herum, meint, er wolle nicht mit »Jein« antworten. Doch natürlich seien seine Fotos irgendwie auch Kunst. »Aber ich entscheide dabei nicht über viele Dinge«, erklärt er. »Es ist keine konzeptionelle Kunst.«

Im richtigen Moment abdrücken
Wahrscheinlich ist das einer jener Punkte, die die Pressefotografie auszeichnen. So viele Gedanken sich die Fotograf*innen auch machen, am Ende sind sie vollständig abhängig davon, was sich vor der Linse abspielt. In das Geschehen einzugreifen, widerspräche dem journalistischen Selbstverständnis. Pressefotograf*innen müssen daher spontan die richtigen Entscheidungen treffen. Vorbereitungszeit gibt es selten. Die Fotojournalistin Alissar Najjar sieht hier einen der Hauptunterschiede zur klassischen bildenden Kunst: »Maler*innen kannst du nicht sagen, dass sie genau jetzt ein Bild malen müssen. Aber als Fotograf*in musst du immer bereit sein.«
Najjar kennt die Branche auch von der Textseite her. Bevor sie 2015 nach Österreich kam, hatte sie in Damaskus als freie Journalistin gearbeitet. Fotografiert hätte sie dort höchstens mit dem Handy, erzählt sie. Eine Fortsetzung ihrer Karriere als Autorin in Österreich schien aufgrund fehlender Sprachkenntnisse unmöglich. Sie entschied sich daher, die Welt fortan in der universellen Sprache der Bilder zu dokumentieren, und begann eine Ausbildung zur (Presse-)Fotografin. Geschichten ließen sich schließlich auch mit diesem Medium erzählen, dazu brauche es keine Inszenierung.
»Zwischen dem guten Bild und der Realität gibt es oft keinen großen Unterschied«, sagt Najjar. Im Endeffekt gehe es vor allem darum, im richtigen Moment abzudrücken und Emotionen einzufangen. Ein wenig Nachbearbeitung braucht es dann aber doch: »Ich gebe keine Rohfotos ab«, erzählt Najjar. »Ich möchte meine Sicht einbringen, das Licht und den Kontrast bearbeiten. Das ist ein bisschen Kunst.« Allein durch den Zuschnitt der Bilder könne man ganz unterschiedliche Effekte erzeugen.
Heribert Corn hingegen ist eher Purist. Seine Bilder bearbeite er kaum, einen Blitz benutze er grundsätzlich nicht. »Das Licht, das ich verwende, kommt vom Himmel.« Es gehe ihm auch darum, die Darstellung nicht zu verfälschen: »Meine Fotografie ist wirklich die ehrlichste, weil sie nicht künstlich beleuchtet ist und nicht inszeniert.«

Die ewige Frage der Objektivität
Schon vor den ersten Kameras strebten Journalist*innen danach, objektiv zu berichten und die Realität so neutral wie möglich darzustellen. Die Fotografie galt dabei lange als Heilsbringerin. Als Technik, die es vermochte, Situationen unverfälscht einzufangen und wiederzugeben. Ganz im Gegensatz zum geschriebenen Wort. Kurt Tucholsky sprach in den 1920ern gar von der »Unwiderlegbarkeit« der Fotografie, deren Wirkung »durch keinen Leitartikel zu übertreffen« sei.
Seitdem hat sich die Debatte ein ganzes Stück weiterbewegt. Objektivität gilt mittlerweile weithin als Mythos oder als frommes Ideal, das wohl nie völlig erreicht werden kann. Das gilt für das Foto wie für den schriftlichen Bericht. Allein schon die Auswahl des Bildmotivs ist eine höchst subjektive Entscheidung, die die Wahrnehmung eines Ereignisses massiv beeinflussen kann.
Aber kommt man der Realität durch ein Foto zumindest ein bisschen näher als durch einen Text? »Ich glaube, dass es zumindest ehrlicher ist«, so Heribert Corn. »Das Geschriebene ist immer Interpretation. Das Foto ist das, was es war, in dieser Tausendstelsekunde.« Dennoch zeigt ein Bild nur eine der Perspektiven dieses Moments, das weiß auch Corn. Schließlich sucht er selbst ja ganz gezielt nach neuen Perspektiven, nach dem »anderen Foto«, wie er es formuliert.
Im Konkurrenzkampf
Als freier Fotograf konkurriert er mit den großen Nachrichtenagenturen, die den Zeitungsredaktionen ebenfalls hochprofessionelle Bilder zur Verfügung stellen. »Vor zwanzig Jahren waren die Agenturfotos tatsächlich schlechter als meine«, erinnert sich Corn. Mittlerweile sei es umgekehrt: »Die Fotograf*innen bei den Agenturen sind sehr stark und in der Quantität viel besser aufgestellt.« Das »andere Foto« zu liefern, wird daher immer wichtiger. Die eine Perspektive, die sich abhebt von den Agenturfotos. Allein aus diesem Grund investieren die Zeitungen in eigene Fotograf*innen. »Ich möchte nicht, dass Der Standard das gleiche Bild auf der Titelseite hat wie die Salzburger Nachrichten, der Kurier oder die Süddeutsche«, hält Corn fest.
Um das zu erreichen, wählt er unterschiedliche Methoden, fotografiert seine Motive zum Beispiel von oben, von der Seite oder aus größerer Entfernung. Manche würden vielleicht sagen, er tobe sich künstlerisch aus. Corn selbst meint: »Ich weiß in der Pressefotografie nie, was mich am nächsten Tag erwartet, und muss aus dieser Situation Kunst machen.« Pressefotograf*innen treffen also viele subjektive, kreative Entscheidungen, die sich zumindest an der Grenze zum künstlerischen Schaffen bewegen. Letztendlich ordnen sich alle ästhetischen Entscheidungen jedoch einem höheren Ziel unter. Alissar Najjar bringt es auf den Punkt: »Ich mache Fotos, die zeigen, was passiert ist.«
Arbeiten von Heribert Corn findet man online unter www.corn.at. Alissar Najjars Fotografie ist unter www.alissarnajjar.com zu sehen.