Eine gemeinsame europäische Kultur wird häufig als Quelle europäischer Identität heraufbeschworen. Doch bei einem Blick auf die Popkultur in Europa drängt sich die Frage auf, wo dieses Gemeinsame denn zu finden ist.
Eine Analyse europäischer Popkultur ist zwangsläufig auf schwammigen Grund gebaut. Gibt es Europa? Gibt es Popkultur? Gibt es europäische Popkultur? Natürlich gibt es alle drei, irgendwie. Aber inwiefern? Dass Europa nur ein koloniales Konstrukt ist, dessen postkoloniale Rechtfertigung immer irgendwie ein »ja, aber …« provoziert ist jetzt keine neue Erkenntnis. Genauso wenig, dass in Zeiten von gleichzeitiger Genreverschmelzung und Publikumsdiaspora die Rede von einer einzigen populären Kultur zunehmend schwierig wird. Aber uns beschäftigt hier vor allem die dritte Frage: Inwiefern gibt es so etwas wie europäische Popkultur? Und die Folgefrage: Inwiefern sollte es so etwas geben?
Kultur in Europa ist in erster Linie eine nationale Angelegenheit. »Die Kulturpolitik fällt in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, die Union fördert die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und unterstützt und ergänzt deren Tätigkeit«, hieß es 2018 offiziell in der sogenannten »Neuen europäischen Agenda für Kultur« der EU-Kommission. Das schränkt das Tätigkeitsfeld der EU schon mal gehörig ein. Und zeigt das Grundproblem auf: Kultur wird in Europa nach wie vor als etwas wahrgenommen, das innerhalb nationalstaatlicher Grenzen passiert. Transnationale Kultur ist da kein gegenseitiger Austausch, sondern läuft immer nur in eine Richtung und tendenziell von größeren Staaten in kleinere. So flimmert eine Vielzahl von britischen, französischen, deutschen und selbstredend amerikanischen Filmen und Serien über die österreichischen Bildschirme und Leinwände. Umgekehrt passiert das nur im Einzelfall.
Eine Schiene für alles
Das Werkzeug, mit dem die EU versuchen möchte, diese Grenzen durchlässiger zu machen, heißt »Creative Europe«. Innerhalb dieser Förderschiene wurden 2021 und 2022 insgesamt 1.909 Projekte im Gesamtwert von 674 Millionen Euro gefördert. Klingt nach einer ganzen Menge, hierbei gilt es aber zu beachten, dass »Creative Europe« erstens alle kulturellen Bereiche – von Film über Musik bis hin zu beispielsweise Textilkunst – und zweitens in diesen Bereichen alle Spielarten von sogenannter Hoch- bis hinein in die Niederungen der Popkultur umfasst. Für populäre Kultur einer bestimmten Sparte fällt also schon mal ein vergleichsweise kleines Stück vom Kuchen ab.
Dennoch können sich einzelne Projekte durchaus über Summen freuen, mit denen man arbeiten kann. Das Projekt Europavox wurde beispielsweise bereits zweimal für jeweils vier Jahre mit zwei Millionen Euro gefördert – mit dem Ziel ein europaweites Netzwerk aus Musikfestivals aufzubauen sowie einen Roster von europäischen Musiker*innen, die diese Events bespielen. Während das für die individuellen Acts durchaus eine Chance sein kann, über ihre lokalen Szenen hinauszuwachsen, bleibt der Einfluss auf diese lokalen Szenen – geschweige denn auf eine breitere europäische Szene – limitiert. Spricht man mit dem Europavox-Gründer François Missonnier, ist zwar durchaus von idealistischen Konzepten wie europäischer »Citizenship« die Rede, aber gleichzeitig geht es zentral immer darum, ob die Bands bereit sind, »das Spiel mitzuspielen«, bereit sind »für den Export«. Dieser individualisierte Fokus, bei dem sich alles um den Export einzelner Kunstprodukte bzw. -produzent*innen in andere europäische Märkte dreht, zieht sich wie ein roter Faden durch die europäische Kulturpolitik.
Neoliberale Marktlogik
Das ist kein Wunder, liegen doch die Wurzeln der EU bekanntermaßen in einem Wirtschaftsbündnis. Der Kern des europäischen Projekts ist der gemeinsame Binnenmarkt. Und dort hat Wert, was sich marktförmig machen lässt. Schon 2012, als die Förderschiene »Creative Europe« noch in den Startlöchern stand, kritisierte Andreas Kämpf vom Deutschen Kulturrat gegenüber der IG Kultur dessen Fokus auf Wirtschaftlichkeit: »Das halten wir für eine sehr gefährliche Entwicklung, weil es natürlich absurd ist, Kultur auf Ökonomie oder die ökonomischen Effekte zu reduzieren – die sie natürlich hat, was aber nicht das einzige ist. Und so wie es da steht, da kommt ja im ganzen Text nichts anderes vor.« Unter diesem Gesichtspunkt scheint es gleichermaßen ironisch wie bezeichnend, dass der gemeinsame Binnenmarkt scheinbar keine transnationale europäische Kulturszene zu etablieren vermag. Denn Kultur lässt sich eben nicht auf den ökonomischen Faktor reduzieren, ist nicht nur ein Produkt, das an beliebigen Orten von beliebigen Menschen produziert werden kann. Stattdessen ist sie höchst abhängig von den Szenen, in denen sie entsteht und dem Publikum, an das sie sich richtet.
Und hier sind wir beim eigentlichen Problem: Was für eine gemeinsame europäische Popkultur fehlt, ist ein gemeinsames europäisches Publikum. Erstaunlicherweise war gerade der angeblich so unpolitische Eurovision Song Contest von Anbeginn an als technisch-soziopolitisches Werkzeug gedacht, um hier Abhilfe zu schaffen. Die gleiche Sendung zur gleichen Zeit auf unzähligen europäischen Fernsehgeräten ergibt eine breite gemeinsame Medienöffentlichkeit. Halt beschränkt auf ein jährliches Großevent. Damit es jedoch tatsächlich so etwas wie ein europäisches Publikum geben kann, braucht es eine beständige europäische Medienlandschaft, braucht es eine Kulturpolitik, die Kunst nicht als Export- sondern als Gemeingut versteht. Solange aber neoliberale Marktlogik als Basis für eine europäische Identität dienen soll, solange wird Popkultur nie ihr vereinendes Potenzial einlösen können.
Der Creative Europe Desk Austria ist die österreichische Kontaktstelle für das EU-Programm »Creative Europe«. Der nächste Eurovision Song Contest findet von 7. bis 11. Mai in Malmö statt.